Strafvollzug ist nicht reformierbar – warum wir knäste abschaffen müssen

Einblicke in den Knastalltag sind recht selten, zumindest die ungeschönten, die Rassismus und LGBTQIA+ – Feindlichkeit, die kleinen und großen Schikanen benennen. Es fehlen die Einblicke, die nicht als Werbeplattform für das Justizsystem herhalten sollen. Das liegt zum einen am Thema selbst – es ist mit Scham beladen, Mensch will vergessen und weitermachen, wenn die geschlossenen Türen endlich hinter einem liegen. Viele haben dann aber einfach ganz andere Probleme, die zu lösen sind, an denen oft leider auch gescheitert wird: Wohnung, Job, Alltag, Krankenversicherung, Rückkehr zu Familie und Freunden…

Aber die Diskussion über den Strafvollzug, über Knäste als alternativlose Lösung und über die Abschaffung dieser muss in Gang kommen, denn sie ist mehr als nötig.

Deshalb gehe ich den Weg und teile Erfahrungen von „drinnen“. Das versuche ich einigermaßen geordnet, in einzelnen Beiträgen zu bestimmten Aspekten. Ich habe keine Ahnung, wohin das führt, was es mit mir machen wird und ob es mir gelingt, aber es ist ein Experiment – einerseits um selbst Dinge zu verarbeiten, andererseits angespornt durch und in Solidarität mit Menschen, die aufgrund von ZU-Aktionen aktuell vermehrt selbst diesen Weg gehen müssen, immer häufiger sogar ohne rechtskräftige Verurteilung als Präventivmaßnahme. Sie brauchen eine Stimme, sie brauchen Unterstützung und vor allem brauchen wir alle zunächst einmal Einblicke, um uns dann möglichst zahlreich wiederzufinden im Protest und Kampf gegen dieses System, das mehr Probleme schafft, als es löst, das stigmatisiert und traumatisiert.

Wenn alle juristischen Optionen ausgeschöpft sind und klar ist, was kommt, beginnt der Albtraum mit dem Strafantritt in der JVA. Innerhalb der JVA wird von einem Zugang gesprochen und dieser Vorgang ist ein demütigender, erniedrigender und emotional extrem belastender, der Spuren hinterlässt, dauerhaft. Es ist nicht das Einzige, was Spuren hinterlässt, aber es ist der 1. Einschnitt, der gesetzt wird und der das Leben in „davor“ und „danach“ aufteilt.

Ist das Tor der JVA einmal hinter Dir geschlossen, wirst Du zu einer Nummer. Mit jedem Schritt weiter ins Innere lässt mensch einen Teil Individualität hinter sich, nicht freiwillig, sondern erzwungen, denn mensch geht im wahrsten Sinne des Wortes nackt in die JVA. Ohne Papiere, ohne irgendwelche persönlichen Dinge, ausgestattet mit einer Gefangenenbuch-Nummer und nur noch den Klamotten, die man am Leibe hat, steht mensch am Ende mit zwei Beamtinnen in der sogenannten „Kammer“. Dort werden alle persönlichen Dinge gelagert, in Kartons und einem Kleidersack. Hier muss nun auch die Kleidung abgegeben werden. Das bedeutet: komplett ausziehen, Arme hoch, in die Hocke gehen und nackt warten, während Beamtinnen unter Scherzen z.B. über die gebuchte Vollpension versuchen, den Computer mit allen erforderlichen Daten zu füttern. Es werden Fotos gemacht. Ich habe während dieser Prozedur wiederholt und immer eindringlicher darum gebeten, zur Toilette gehen zu dürfen und einen neuen Tampon zu bekommen, denn auch die mitgebrachten Hygieneartikel werden nicht ausgehändigt. Ich werde vertröstet und stehe da minutenlang in Erwartung des Blutes, das mir jeden Moment die Beine runterlaufen könnte. Als sie mich dann endlich zur Toilette lassen, werde ich von einer Beamtin begleitet, Türen bleiben offen, alles erfolgt unter Beobachtung und obwohl meine Strafe nichts mit Drogen zu tun hat (Verhinderung einer Abschiebung und Tierbefreiungen), ist eine Urinkontrolle Pflicht.

Die „Eingangsuntersuchung“ am Tag darauf beschränkt sich auf die Frage nach vorliegenden Erkrankungen, bekannten Allergien und der Wahrscheinlichkeit für einen Selbstmordversuch. Das ist bereits ein Vorgeschmack auf die ärztliche Versorgung in Haft.

Dann endlich bekomme ich wieder Klamotten ausgehändigt, alles abgezählt, alles nicht wirklich passend, alles einheitlich. Warum auch immer ist es in “meiner” JVA üblich, dass weiblich gelesene Gefangene in der Kammer zunächst nur einen Rock bekommen und in diesem durch die Haftanstalt bis auf die Station geführt werden. Eine Hose gibt es dann erst dort.

Außerdem bekommt mensch in einer verranzten Plastikbox einen Messbecher, 1 kg Zucker, 1 Glas Marmelade, Besteck, 1 Tasse, eine Blechschüssel, die aussieht wie ein Futternapf für Hunde und ein dreigeteiltes Tablett aus demselben Material wie die Hundefutterschüssel.

Zunächst steht aufgrund von Covid-Maßnahmen die Quarantäne an, Einzelhaft, 23 Stunden am Tag ohne Kontakt eingesperrt auf ca. 8 m². Wer bereits doppelt geimpft ist, soll eigentlich nur 5 Tage hier bleiben müssen, am Ende werden es 10. TV und Wasserkocher sind hier noch inklusive, später wird das Geld kosten, ebenso wie Duschgel, Zahnpasta und Zahnbürste. Telefonate sind nicht möglich.

Die Zelle: 1 Tisch, 1 Stuhl, 1 Schrank, 1 Regalbrett, 1 Pinnwand (und nur dort dürfen Fotos aufgehangen werden), 1 Bett, auf dem sich gleich schon erste Hakenkreuze finden, Bettwäsche ohne Knöpfe (erleichtert die Kontrollen), 1 Waschlappen, 4 Handtücher, 2 Geschirrtücher, nur kaltes Wasser, keine Vorhänge, Flutlicht und Kameras draußen im Hof, vergitterter Ausblick auf Zäune, Stacheldraht und Mauern.

Mensch wird wie aus dem Maschinengewehr mit dem Ablauf in der JVA bombardiert, unfähig alles aufzunehmen. Was hängen bleibt, ist die mehrfach wiederholte Drohung, die Notruf-Anlage ja nicht zu missbrauchen und diese wirklich nur im Falle eines „echten Notfalls“ (was ist ein „echter Notfall“?) zu benutzen, da sonst Strafen drohen.  Duschen und Zelle putzen immer Montag, Mittwoch und Freitag zwischen 6:00 – 6:30 Uhr, 1 Stunde Hofgang gegen 7:00, je nachdem, wie die Beamtinnen Zeit haben.

Es wird noch gestattet, sich ein Buch vom „Wühltisch“ im Gang zu nehmen, eine Packung Tee und etwas Papier, sowie einen Kugelschreiber.

Dann ist die Tür zu, Schlüssel drehen sich und es kommt der Moment zu realisieren, wo Du bist. In diesem Moment brechen viele, auch die, die nicht zum 1. Mal hier sind. Das ist manchmal überall zu hören – Weinen, Tränen, Schreie, Wut und Verzweiflung.

Durch Risiko und neue Allianzen wieder in Bewegung kommen

*anonym zugesandt

Massenhafter »Ziviler Ungehorsam« (ZU) ist in der Protestkultur von vielen sozialen Bewegungen angekommen. Etwas, das aktuell oft unter dem Begriff »Ziviler Ungehorsam Plus« (ZU+) diskutiert wird und das Ende Gelände dieses Jahr zum Einsatz brachte, muss nun ebenfalls Teil dieser werden. Die Diskussion darüber ist nicht erst seit Andreas Malms »How to blow up a pipeline« in Gange und nicht mehr  .

Ziviler Ungehorsam als Ausgangspunkt

Ziviler Ungehorsam beschreibt den bewussten Verstoß gegen rechtliche Normen aus Gewissensgründen. Dabei geht es um die Beseitigung einer Unrechtssituation und die Durchsetzung von Menschenrechten. Es wird bewusst in Kauf genommen, für diese Handlungen bestraft zu werden. Konkret findet Ziviler Ungehorsam bisher in der Regel in Form von Blockaden z.B. fossiler Infrastruktur und dem Besetzen von Wäldern statt, um diese gegen Rodungen zu verteidigen. Aber auch Schulstreiks fallen unter diesen Begriff. ZU+ meint zunächst einmal lediglich die Erweiterung und Verschärfung der bisherigen Aktionsformen mit dem Ziel, die Auswirkungen des Protests zu verlängern, Kosten für die z.B. fossilen Unternehmen in die Höhe zu treiben und unberechenbar zu werden. Malms vieldiskutiertes Buch hat kontroverse Strategiedebatten innerhalb der Klimagerechtigkeitsbewegung angeheizt, weshalb ich eine Auseinandersetzung mit Malms zahlreichen Argumenten versuchen möchte, um ein Gedankenexperiment zu starten.

Bevor ohrenbetäubender Widerspruch und überzogene, unrealistische Szenarien eine Beschäftigung mit dem Thema unmöglich machen, sollten wir uns alle damit auseinandersetzen, was ZU+ bedeutet, bedeuten kann, aber nicht muss und was sich auf keinen Fall hinter diesem Begriff verbergen darf.

ZU+ ist mehr als Sabotage. ZU+ darf keine wahllose, unvorbereitete Aktion sein, die lediglich dem Zweck der nicht zielgerichteten Zerstörung dient.

ZU+ sind keine Randale, Menschen werden nicht gefährdet.

ZU+ ist in 1. Linie Sachbeschädigung als politische Aktion, deren Legitimität mit Argumenten begründet werden kann und muss.

ZU+ ist der Ausweglosigkeit angesichts einer Katastrophe geschuldet, die bereits im Gange ist und begründet in der Erfolglosigkeit bisheriger Proteste, Aktionsformen und all der Mittel, die genutzt und ausgeschöpft wurden.

ZU+ ist Ausdruck von Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung, Wut und Enttäuschung über leere Worte, große Versprechungen und Verträge, deren gesetzte Grenzen stetig verschoben und aufgeweicht werden.

ZU+ ist unsere Reaktion auf eure Handlungen einerseits und eure Verweigerung solcher andererseits.

ZU+ ist unser Mut und unsere Konsequenz gegenüber eurer Mutlosigkeit und Inkonsequenz.

Die Notwendigkeit anerkennen

Die politische Notwendigkeit, einen Schritt weiterzugehen, ist einfach zu begründen: Die Politik handelt nicht, obwohl Millionen ihre Forderungen nach Klimagerechtigkeit, einem Ende von fossilen Energien und einem Systemwandel seit Jahren beinahe täglich auf die Straßen tragen, in letzter Zeit immer wieder unterstützt von großen, bahnbrechenden Gerichtsurteilen. Akteurinnen des Zivilen Ungehorsams haben sich seit Jahren dem friedlichen Protest verschrieben und mit Körpern das blockiert, was täglich Leben und Zukunft zerstört. Sie haben auf vielfältige und kreative Weise protestiert, Diskurse angeschoben, Bildungs- und Aufklärungsarbeit geleistet. Die Konsequenzen folgten auf der falschen Seite. Sie folgten und folgen in Form von Polizeigewalt, Repressionen und Einschränkungen der Versammlungsfreiheit. Sie blieben und bleiben aus in Form von politischen Entscheidungen, die der Realität ins Auge blicken, dem Ausmaß der Katastrophe auch nur annähernd angemessen sind und entsprechenden wissenschaftlichen Erkenntnissen Rechnung tragen.

Wer die Frage nach der politischen Notwendigkeit und Legitimation von ZU+  verneint, muss letzten Endes das Scheitern der Klimagerechtigkeitsbewegung an eigenen Ansprüchen anerkennen und somit in letzter Konsequenz die Entscheidung treffen, aufzugeben. Denn wie sollen wir uns selbst die politische Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit weiterer Aktionen und Proteste erklären, wenn sich unsere Aktionsformen nicht entwickeln und verändern, die seit 2015 (erste Massenaktion von Ende Gelände) keine wirklichen Erfolge in Form bahnbrechender Gesetze und richtungsweisender politischer Entscheidungen gebracht . Worin besteht die Legitimation und Sinnhaftigkeit damit unverändert und im vollen Bewusstsein der Erfolglosigkeit noch ein, fünf oder zehn Jahre weiterzumachen, all unsere Kraft und Ressourcen einzubringen, uns aufzureiben, wenn die großen und erforderlichen Ergebnisse ausbleiben? Die großen Ziele, die wir immer wieder lautstark verkünden, lauten: Kohleausstieg jetzt, fossile Energien beenden, sytem change not climate change, kein Meter neue Autobahn, alle Dörfer/Wälder bleiben, RWE enteignen…

Davon haben wir nichts erreicht und wir werden es auch nicht, denn die Zeit arbeitet ebenfalls gegen uns. Sie läuft uns mit riesigen Schritten davon. Wenn wir uns nicht trauen, den nächsten Schritt zu gehen, sollten wir das eingestehen und die Bühne verlassen. Wir haben getan, was wir konnten, sind bis zu einem gewissen Punkt gekommen, aber es hat nicht gereicht.

Wenn wir aber nicht aufgeben und beim bisher Erreichten stagnieren wollen, sondern uns selbst und unsere Aussagen ernstnehmen, uns an ihnen messen lassen wollen, dann müssen wir anerkennen, dass es ein »weiter so« auch für uns nicht geben kann und darf. Unser »weiter so« wird dort zum Verbündeten des politischen und wirtschaftlichen »weiter so«, zum Teil und Stabilisator des Status Quo, wenn unsere Aktionen berechenbar sind und bereits eingeplant werden. Nach zwei Tagen Blockaden räumen wir das Feld, die Maschinerie läuft wieder an. Aus vollmundigen Aktionsankündigungen wie »Kohleausstieg machen wir selbst«, »wir leiten den sofortigen Gasausstieg ein«, »we shut shit down« usw. werden Phrasen, die, zu oft ohne echte Erfolge wiederholt, jegliche Glaubwürdigkeit verlieren. Statt Gasausstieg steigt unsere Regierung, getrieben von den absehbaren Konsequenzen jahrelanger falscher Politik, mit beiden Füßen ein.

Mut als Antrieb der Bewegung

Einige Akteurinnen des ZU sind aktuell (noch) ein Faktor, dem Gewicht beigemessen wird, auf dem Hoffnungen vieler ruhen, einschließlich der Hoffnungen von uns selbst, die wir ZU betreiben. Akteurinnen wie Ende Gelände, Die letzte Generation und Extinction Rebellion haben momentan (noch) das Potential, die Gegnerinnen auf Seiten der Konzerne, Lobbyistinnen, neokolonialen und neoliberalen Strukturen aus der Ruhe zu bringen, mediale Schlaglichter zu setzen und Diskurse zu verschieben. Aus diesem Potential schöpfen wir Kraft, es ist unsere Waffe gegen die Übermacht aus Geld, Einfluss und Gewalt in jeglicher Form. Dieses Potential ist unser wertvollstes Gut und wir dürfen es nicht verspielen. Aufgrund des Krieges in der Ukraine, der Inflation und den dramatisch zu Tage tretenden sozialen Problemen sind wir aber auf dem Weg dahin, mit großen Schritten.

Als Ende Gelände zum ersten Mal in Kohlegruben und auf Bagger ging, haben die beteiligten Menschen etwas Neues gewagt, sie sind Risiken eingegangen und haben sich dem heftigen Gegenwind gestellt. Dann geschah etwas Großartiges. Dieser Mut wurde belohnt, die Bewegung ist stetig gewachsen, weitere Akteurinnen kamen hinzu, die Akzeptanz solcher Aktionen ist in der breiten Masse gestiegen, weil die Notwendigkeit verstanden und anerkannt wurde, was diese Menschen ganz bewusst in Kauf genommen haben, um uneigennützig für eine bessere Zukunft aller einzutreten.

Jetzt sind wir an einem Punkt, an dem wir es nur mit unfassbarem Aufwand, der uns zu oft bis an und über unsere Grenzen treibt, schaffen können, dieses erreichte Level Aktion für Aktion zu halten. Ein weiteres großes Anwachsen scheint kaum möglich. Dem gegenüber stehen keine Erfolge im Sinne von echtem Klimaschutz oder gar Klimagerechtigkeit. Gleichzeitig aber werden die Probleme immer größer, vielfältiger, umfassender und dringlicher. Wir haben erkannt, dass der Weg zu Klimagerechtigkeit nur erfolgreich eingeschlagen werden kann, wenn wir in gleichem Maße für soziale Gerechtigkeit, gegen Rassismus, aufblühenden Faschismus, Neokolonialismus, das Patriarchat, den Kapitalismus kämpfen, vor der eigenen Haustür und weltweit. Wir müssen das Thema Klimagerechtigkeit jetzt dringend und eng ankoppeln an die sozialen Kämpfe um Gerechtigkeit, Enteignungen, Mietendeckel, Gasumlagen usw. Dies ist ein wesentlicher Faktor für uns, um relevant zu bleiben und neben dem ZU+ ein Hebel, den wir betätigen müssen.

Dazu braucht es viel mehr Menschen, denn die bloße Anzahl von Orten, an denen ungehorsamer Protest nötig und oft auch gewünscht ist, an denen der Schulterschluss mit Streikenden und Gewerkschaften erfolgen muss, ist unüberschaubar. Gleichzeitig verlieren wir aber Menschen, die ausgebrannt und entmutigt sind, die an der eigenen Wirkmacht zweifeln, frustriert sind. Ohne Veränderungen bei uns und unseren Aktionsformen können wir weder eine weitere signifikante Mobilisierung außerhalb der Bewegung schaffen, noch alle Menschen in der Bewegung halten. Wir haben die natürliche Grenze des Wachstums, die Soll-Bruchstelle der Bewegungen, erreicht. Neue Aktionsformen einiger und Kooperationen außerhalb der Klimabubble können im Zusammenspiel mit Diskussionen zu Notwendigkeit und Legitimität dieser Aktionen und Kooperationen der Basis aber neue Stärke und neuen Zulauf bescheren.

Wenn wir Kipppunkte auf unserer Seite erreichen wollen, ist jetzt der Moment gekommen, wieder Mut zu beweisen, etwas Neues zu wagen, Risiken einzugehen, neue Allianzen zu schmieden und sich dem Gegenwind zu stellen. Das darf bezogen auf ZU+ nicht leichtfertig und unvorbereitet geschehen, es darf kein Schritt sein, der uns leichtfällt und dem wir entgegenfiebern. Menschen, die sich zu Aktionen von ZU+ entschließen, wissen, was sie tun, warum sie es tun und was das nach sich ziehen kann. Diesen Menschen muss Raum gegeben werden, sie müssen sich unserer Solidarität sicher sein, denn Solidarität ist unsere Waffe gegen Repressionen.

Akteurinnen des ZU sind nicht auf der Bildfläche erschienen, um für alle anschlussfähig zu sein und sich in das bestehende System einzupassen, sie werden aber auch keinen Erfolg haben, ohne in der Zivilgesellschaft verwurzelt zu sein. Hier gilt es, eine gute Balance zu finden.

Sinn und Aufgabe von Zivilem Ungehorsam ist das Stören der bestehenden Verhältnisse angesichts übermächtiger Probleme. Ziviler Ungehorsam will radikale Veränderungen erzwingen, Ungerechtigkeiten beenden, Themen setzen und Diskurse verschieben, da wo andere Mittel und Wege nicht mehr, nicht in ausreichendem Maße und nicht schnell genug zu Erfolgen führen. Die Folgen der bereits stattfindenden Klimakrise sind genau das: ein übermächtiges Problem. Die Klimakrise ist eine Katastrophe, bei der es im wahrsten Sinne des Wortes bereits seit Jahren um Leben und Tod geht. Wenn es angesichts dessen nicht gerechtfertigt ist, einmal mehr die Grenzen dessen zu verschieben, was legitim, notwendig und gerechtfertigt ist, weiß ich nicht, was es dann rechtfertigen würde.

Und wenn es nicht eine Akteurin des Zivilen Ungehorsams ist, die diesen Schritt von ZU+ offensiv geht, wer soll es dann tun?  Wenn wir diesen Mut nicht aufbringen, können wir das auch von keiner anderen Gruppe erwarten. Wir dürfen und können die Verantwortung nicht auf andere abwälzen, weil wir selbst zu viel Angst haben.

Natürlich ist es verständlich und richtig, Bedenken zu haben. Diese müssen abgewogen werden mit den Argumenten, die so eindeutig für den nächsten Schritt sprechen. Dabei werden unterschiedliche Menschen zu unterschiedlichen Entscheidungen kommen. Das sollen sie auch, denn ZU+ ist sicher keine Aktionsform, die sich (immer) als Massenaktionen umsetzen lassen. ZU+ muss und wird über kurz oder lang eine weitere Option sein, umgesetzt von einigen. Unsere Aufgabe ist es, diese Option zu öffnen, Rahmenbedingungen festzulegen, Menschen Raum zu geben, die sich dazu entschließen und solidarisch an ihrer Seite zu stehen, weil wir die Notwendigkeit verstehen und anerkennen, was sie bereit sind, stellvertretend für uns alle zu tun und in Kauf zu nehmen. Dann kann wieder etwas Großartiges geschehen, Akzeptanz wachsen und echte, radikale Veränderung ausgelöst werden. Die Zuspitzung, die durch ZU+ bewusst provoziert wird, kann – wie die ersten Massenaktionen – wieder zu einem Wachsen in die Breite führen. Dies geschieht, weil auf der einen Seite Handlungsspielräume für die erweitert werden, die aufgrund von Frustration und Hoffnungslosigkeit drohen, wegzubrechen. Auf der anderen Seite werden Menschen, die sich bisher von jeglichem Protest ferngehalten haben, durch die, die bereit sind, noch größere Risiken auf sich zu nehmen, jetzt dazu ermutigt, selbst aktiv zu werden .

Die Geschichte von ZU+ bietet Erfolge und Potential

Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass ZU+ bereits Teil der Kämpfe für Klimagerechtigkeit, soziale Gerechtigkeit und Systemwandel ist. Die Liste an Beispielen ist vielfältig und lang. Bisher fanden diese Aktionen aber meist abseits des breiten Protests statt, somit auch losgelöst von thematischen Debatten, inhaltlichen Auseinandersetzungen und zu oft auch nicht aufgefangen von uns als solidarischer Gemeinschaft. Dadurch hat sich das Risiko für die Einzelpersonen nochmal erhöht und es war zu einfach, sie in der breiten Öffentlichkeit als Randaliererinnen und Ökoterroristinnen zu kriminalisieren und ihrer Art des Protests jegliche Legitimation abzusprechen. Der Schritt, der gerade diskutiert wird, ist also viel weniger der, über eine neue Protestform, sondern vielmehr der, über den Umgang mit dieser Art von Protest, über seine Rahmenbedingungen und die Möglichkeit, sein Potential für unsere großen Ziele und zu bewältigenden Aufgaben zu nutzen. Es ist gleichermaßen eine Diskussion darüber, wie wir den Menschen, die sich dazu entschließen, mehr Schutz, Sicherheit und das Gefühl der Wertschätzung, Anerkennung und Zugehörigkeit zur Klimagerechtigkeitsbewegung geben können.

Das gilt für Menschen im Globalen Norden, es gilt aber gerade angesichts der Schwerpunkte, die sich einige Akteurinnen der Klimagerechtigkeitsbewegung aktuell gesetzt haben, umso mehr mit Blick auf den Globalen Süden, marginalisierte Gruppen und indigene Menschen. Wir wollen antikolonial agieren, nach wie vor bestehende koloniale Strukturen aufbrechen und entsprechende Ausbeutungen von Menschen und Ressourcen beenden.

Wir solidarisieren uns folgerichtig mit den Kämpfen marginalisierter Gruppen und indigener Menschen, wir stehen an ihrer Seite und unterstützen ihre Kämpfe. Das sind bis hierher zunächst nur Worte, oft geschuldet der Tatsache, dass die Orte dieser Kämpfe weit entfernt voneinander liegen. Aber wenn wir diese Worte ernst meinen, dann schulden wir es diesen Menschen, unsere Komfortzone zu verlassen und Worten Taten folgen zu lassen. Marginalisierte Gruppen, indigene Menschen, Menschen im Globalen Süden sind aus verschiedenen Gründen zu ganz anderen, oft auch tatsächlichen Kämpfen, gezwungen und haben neben vielen anderen Privilegien auch das des friedlichen, legalen Protests nicht oder nur sehr eingeschränkt. Unsere Privilegien zu erkennen und zu reflektieren, heißt auch, sie für diese Menschen zu nutzen. ZU+ ist eine logische Konsequenz dessen. Fossile Konzerne ziehen mit ihrer Infrastruktur eine Schneise der Verwüstung rund um den Globus. Damit beuten sie Ressourcen in einem Teil unseres Planeten aus, verletzen Menschenrechte, zerstören ganze Landstriche, töten und transportieren den Nutzen und Profit in den anderen Teil der Welt, in die Taschen einiger weniger. Die fossile Infrastruktur ist ein verbindender Punkt, den wir im Globalen Norden erreichen und angreifen können, um dem Globalen Süden zu helfen und uns tatsächlich den Kämpfen der Menschen dort anzuschließen. Unterbrechen wir Infrastruktur, hat das Einfluss auf den globalen Kreislauf. Verursachen wir dadurch Kosten für fossile Unternehmen, packen wir sie an dem einzigen Punkt, der diese Konzerne interessiert: der eigene Profit. Gleichzeitig werden wir dadurch als Gegenspielerin auf Augenhöhe wahrgenommen, weil wir Wirkmächtigkeit beweisen und in Teilen unberechenbar werden. Das wird schnell für Veränderungen sorgen und die Kipppunkte auf unserer Seite in Reichweite auch für all den anderen Protest bringen, der natürlich weiterhin Hauptbestandteil der Klimagerechtigkeitsbewegung bleiben wird.

Gewaltfreiheit definieren

Abschließend ist es noch an der Zeit, den Mythos, der uns zu absoluter, bedingungsloser Gewaltfreiheit verdammt, als das zu benennen, was er ist: im besten Fall nur eine Seite der Geschichte, offen betrachtet aber eine selbstauferlegte Beschränkung unserer Möglichkeiten und damit einhergehend ein bereitwilliges Überlassen der Deutungshoheit des Begriffes der Gewaltfreiheit an die, die vom aktuellen System und unserem Zögern profitieren. Die Geschichte, die immer wieder erzählt wird, von totaler Gewaltfreiheit als einziger Option für Erfolg, vermeintlich belegt durch den Kampf u.a. der Suffragetten für das Wahlrecht für Frauen, den Kampf gegen Sklaverei und die amerikanische Bürgerrechtsbewegung, ist eine unvollständige und somit falsche. Die Suffragetten zerstörten z.B. zu Hunderten Schaufensterscheiben, zündeten Briefkästen in London an, attackierten Statuen mit Äxten und Hämmern. Die Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King war erfolgreich, weil sie, angeführt von Malcom X, eine wesentlich radikalere Bewegung (gewollt oder ungewollt) an ihrer Seite hatte, die gefürchtet war und sie selbst und ihre Forderungen wie das kleinere Übel aussehen ließ. Sklaven  haben ihre Befreiung nicht durch Sitzstreiks erreicht und die, die mit ihnen kämpften, taten dies nicht mit Transparenten. Wenn wir diese Beispiele als Vorbilder heranziehen, dann müssen wir ihnen erst noch in letzter Konsequenz gerecht werden.

Dazu gehört auch, dass wir uns Diskussionen um Deutungshoheiten von Begriffen stellen und innerhalb dieses Diskurses diese Deutungshoheiten für uns beanspruchen. Angesichts der immer schneller fortschreitenden Klimakatastrophe und ihrer schon jetzt dramatischen Folgen, wie den Verlust von Menschenleben und Biodiversität, die Schaffung von Fluchtursachen, die unwiderrufliche Zerstörung von Lebensräumen und Ökosystemen, das Erreichen und Überschreiten von Kipppunkten und das völlige Ausbleiben angemessener politischer Reaktionen versetzen uns nicht nur in die Lage, sondern machen es zu unserer Pflicht, den Begriff der Gewaltfreiheit auch bei Aktionen von ZU+ für uns zu beanspruchen. Sachbeschädigung ist gewaltfrei im Angesicht der Klimakatastrophe, die sich tatsächlich in Form von unfassbar vielfältiger und brutaler Gewalt manifestiert.

 

 

Was wird aus der Wut?

anonymes Fundstück aus den Untiefen von emails, hier für alle zum Lesen:

Eine Bestandsaufnahme der Klimagerechtigkeitsbewegung – einiges erreicht, aber (noch?) nicht die eigenen Ziele und das, was nötig ist

Ein (Zwischen-)Fazit, realistisch, pessimistisch, wütend, aber auch mit ein bisschen Hoffnung

Fridays For Future hat den Zenit überschritten. Das hat viel weniger mit Corona zu tun, als mensch vielleicht auf den ersten Blick denken mag und als es uns allen als Teil der Klimagerechtigkeitsbewegung lieb ist. Fridays For Future bewegt sich aus mir nicht nachvollziehbaren Gründen massiv Richtung Mainstream durch Kandidaturen für den Bundestag, durch das Ausbleiben radikaler Forderungen und durch das beinahe schon verzweifelt wirkende Festhalten an einer Aktionsform: Schulstreiks, die oft auch nur noch normale Demos sind. FFF hat viel bewirkt. Warum sich aber all die Enttäuschung und der Frust angesichts eines Kohleeinstiegsgesetzes, eines – vom Verfassungsgericht bestätigt – völlig unzureichenden Klimagesetzes und ausbleibender Nachbesserungen, angesichts von Wahlprogrammen, von denen keins ausreicht, um das Pariser Klimaabkommen zu erfüllen, nicht in Veränderungen niederschlagen, bleibt das Geheimnis von fff und den vielleicht teilweise bereits zu großen und dadurch schwerfälligen Strukturen. Warum weiterhin massiv ausgerechnet auf die Grünen gesetzt wird, statt sich für eine starke Linke einzusetzen, die das weitreichendste Klimaprogramm aufgelegt hat, eine Überwindung des Kapitalismus fordert und Enteignungen für soziale Gerechtigkeit nicht ausschließt, bleibt mir ein Rätsel.
Fridays For Future fordert die Einhaltung von Gesetzen und Verträgen, das ist in Ordnung und wichtig, denn schon daran scheitert es in der aktuellen Politik, aber es ist nicht progressiv. Uns allen ist klar, dass wir die Systemwende, Klimagerechtigkeit, soziale Gerechtigkeit und all die anderen großen Ziele, die in bunten Buchstaben auf Bannern und Transparenten zu lesen sind, so nicht erreichen werden und schon gar nicht in der Zeit, die uns für radikale, weitreichende Veränderungen noch bleibt.
Fridays For Future wird trotzdem selbstgewählt zu einer Organisation für das grüne Gewissen der Mitte und der Politik werden. Auch das ist in Ordnung. Dadurch kann und wird noch immer eine wichtige Funktion erfüllt – Erstkontakt mit politischem Engagement, ein wenig Druck Richtung Parteipolitik, Durchlauf-Organisation für die, die sich dann schnell weiterentwickeln wollen.
Die gesellschaftliche Relevanz und das Mobilisierungspotential werden dadurch allerdings (zu Recht) abnehmen.

Die Zeit des Wachstums und immer neuer Rekord-Teilnehmerzahlen ist vorbei.
Ich glaube, diese „Soll-Bruchstelle“ ist allen Akteur_innen der Klimagerechtigkeitsbewegung gemein, es ist ein logischer und natürlicher Prozess und nicht als Kritik an einzelnen Akteur_innen zu verstehen. Der Knackpunkt für alle Bewegungen werden diese Fragen sein: wie wird damit umgegangen? Wird es erkannt und gestehen sich die Bewegungen das selbst ein? Welche Konsequenzen ziehen sie daraus?

Fridays for Future hat sich entschieden mit einer Hinwendung zu Grüner Parteipolitik und dem Mainstream-Aktivismus, der mahnt, erinnert, fordert, aber nicht aneckt und nicht die Themen, Diskurse und Richtungen vorgibt. Es gibt Ortsgruppen, auf die diese Einschätzung nicht zutrifft und es bleibt zu hoffen, dass diese sich freischwimmen und ihren eigenen, hoffentlich progressiveren Weg gehen oder sich entsprechenden Bewegungen anschließen.

Für die beiden anderen großen Akteur_innen Ende Gelände und Extinction Rebellion rückt die Zeit der Entscheidung ebenfalls schnell näher.
Für Extinction Rebellion, die ja durchaus – gerade mit Blick nach Großbritannien – aktuell schon gezeigt haben, dass sie bereit sind, andere Aktionsformen zu versuchen, wird in meinen Augen auch entscheidend sein, ob sie alte Grundsätze hinter sich lassen und sich zu konkreten Forderungen durchringen können. In Ansätzen geschieht das bereits, denn die Kritik am Kapitalismus und die Forderung nach Systemwende wird deutlicher und schärfer kommuniziert.

Aufgrund der weltweiten Gruppen von XR kann da viel Gutes passieren, vielfältige Themen können – auch ausgerichtet auf jeweilige landesspezifische Gegebenheiten und Probleme – aufgegriffen und bearbeitet werden: Naturschutz, Tierrechte und in diesem Zusammenhang das große Feld der industriellen Landwirtschaft, Ozeane, Ökozid-Gesetz – all das ist bereits in XR implementiert und wartet nur darauf, mit entsprechenden Forderungen und Aktionen ausgebaut und entscheidend bespielt zu werden.

Ende Gelände hat eine mutige, notwendige Entscheidung in die Wege geleitet. Ende Gelände ist bereit, etwas zu riskieren und einmal mehr den 1. Schritt zu wagen, ohne alle Antworten zu kennen. Ende Gelände hat in Diskussionen, nicht leichtfertig und durchaus nicht einhellig eine Entscheidung auf den Weg gebracht, für die ich diesem Bündnis riesigen Respekt zolle. Ende Gelände hat sich darauf besonnen, was Ziviler Ungehorsam eigentlich bedeutet, hat erkannt, dass das bisherige Agieren an Grenzen stößt und das Machbare erreicht hat, während die brutale Realität der Klimakrise täglich neue Negativrekorde aufstellt und Hiobsbotschaften liefert. Es gibt durchaus berechtigte Bedenken, es gibt offene Fragen, es gibt Risiken, aber um den Status Quo, den wir alle als Klimagerechtigkeitsbewegung bekämpfen, ins Wanken zu bringen, muss der eigene Status Quo der immer wieder gleichen Aktion durchbrochen werden. EG nimmt die Herausforderung an und riskiert etwas. Vielleicht wird es dieses Jahr nicht mehr sein, als die Diskussion öffentlich anzustoßen, sich der Auseinandersetzung zu stellen, sozusagen in den Ring zu steigen, zu versuchen, die Notwendigkeit und Legitimität zu begründen und sich negativer Presse, populistischer Meinungsmache, Anfeindungen und weiterer Kriminalisierung auszusetzen. Schon das ist eine gewaltige, schwere, aber nötige Aufgabe und wer, wenn nicht Ende Gelände soll diesen Schritt wann, wenn nicht jetzt mit täglichen Hitzerekorden in der Arktis, Dürreprognosen für wirklich alle Regionen der Welt, Menschenrechtsverletzungen am laufenden Band….vollziehen? Einen perfekten Zeitpunkt wird es nie geben, ebenso wenig wird aus heiterem Himmel eine Akteurin auftauchen, die Ende Gelände, als einer der relevanten ZU-Akteur_innen, diesen Schritt abnimmt. Im Gegenteil. Die Augen sind auf dieses Bündnis gerichtet, das ZU in der Klimagerechtigkeitsbewegung etabliert und Protest neu definiert hat.

Während das geschrieben wird, heißt es, das Zwischenfazit beenden (aber noch nicht den Text als Ganzes, der eigentlich für einen völlig anderen Zweck gedacht war) und abwarten, ob diese Aussagen ihre Gültigkeit behalten und Ende Gelände mutig bleibt, konsequent und ungehorsam, auch ohne alle Antworten zu kennen und auch verbunden mit dem Risiko, dass es für ein Bündnis eine falsche Entscheidung war. Abwarten, weil einige der Argumente, die aktuell noch einmal diskutiert werden, „Scheinargumente“ sind, geschuldet der Unsicherheit, überzogenen, unrealistischen Schreckensszenarien angesichts eines Begriffes, einer Vorsicht, die lähmt, einem Wunsch nach Sicherheit und allumfassenden Antworten, die es nicht gibt – auch wenn all diese Gefühle verständlich und nachvollziehbar und die Bedenken sicher nicht irrelevant sind.

Warum dieses Jahr? Diese Frage hat sich das Bündnis schon zwei Jahre lang gestellt und sie als Grund für den Aufschub anerkannt. Warum 2020? Warum 2021? Warum 2026?…Jedes Jahr die selbe Frage, während die Klimakrise weiterrast. In den Tagebauen beim Thema Kohle wurde der Moment verpasst, das sollte kein 2. Mal passieren. Jetzt ist wieder so ein Moment, da das Thema aufgrund von Büchern und Presseberichten, die gezielt mit der Frage spielen, bereits auf dem Tisch ist.

Gas ist ein neues Thema. Ist das nicht genug „neu“ für 1 Jahr? Ja, Gas ist ein neues Thema, es wird entsprechend vorbereitet. Gas ist aber auch fossiler Energieträger wie Kohle und dazu arbeitet EG seit Jahren. Es ist kein riesiger, unverständlicher und nicht nachvollziehbarer Schritt, als würde von Kohle zu Sonne gewechselt. Das Bündnis sollte sich, seiner Arbeit und auch der Öffentlichkeit vertrauen, dass das Thema Gas keine massive Hürde darstellen wird.

Brunsbüttel ist ein neuer Ort. Ja. Durch das Kohlethema war Ende Gelände lokal stark verwurzelt bzw. gebunden, aber die Arbeit nach außen ist nicht in Tagebauen hängengeblieben. Es wurde unfassbar viel geleistet, Themen und Standpunkte gesetzt, auch international. Den Menschen ist Ende Gelände ein Begriff, Unterstützung macht sich genau wie eine eher negative Einstellung dem Bündnis gegenüber nicht zwangsläufig und ausschließlich an langjährigen Kontakten fest, sondern an den Themen. EG kann zukünftig nicht davon ausgehen, jedes Jahr wieder an denselben Ort zu kommen, dafür ist das Themenspektrum inzwischen viel zu groß und sind die Orte der Zerstörung viel zu zahlreich.

Eine Akteurin wie EG sollte ihre Aufgabe darin sehen, enttäuschte fff-Aktivist_innen aufzunehmen. Ja, dem kann das Bündnis auch durchaus gerecht werden, denn am Kern von Ende Gelände und der Aktionsform des massenhaften Zivilen Ungehorsams wird sich nichts ändern durch die Erweiterung der Optionen für die, die sich dazu entschließen. Es wird immer klar sein, wo Mensch sich anschließt und einbringt. Das Warten auf, das Integrieren und Heranführen von enttäuschten fff-Aktivist_innen kann aber nicht Hauptaufgabe als ZU-Akteurin sein. Dadurch verurteilt sich EG selbst zum Stillstand und das wird Auswirkungen auf Erfolge und Relevanz haben. Die Idee dahinter, ständig weiter zu wachsen, ist eine fatale (Kapitalismus lässt grüßen). Wachstum ist nur bis zu einem gewissen Punkt möglich, Ende Gelände hat diesen momentan erreicht. Der Pool an fff-Aktivist_innen ist ebenso endlich. Außerdem ist numerische Größe nicht der Garant für Erfolge (fragt gerne 1,5 Mio fff-Aktivist_innen), für Relevanz, Weiterentwicklung und/oder für Progressivität. Im Gegenteil, sie kann all das erschweren.
Ende Gelände sollte den Fokus nicht nur auf das Einbinden neuer Menschen legen, sondern auch denen Wertschätzungen zeigen, die schon seit Jahren dabei sind, die diese Bewegung zu dem gemacht haben, was sie jetzt ist und die dafür teilweise sehr viel auf sich genommen haben. In dieser Gruppe gibt es nicht wenige, die müde, frustriert, enttäuscht, traurig, wütend, verzweifelt sind, sich ohnmächtig fühlen und nicht mehr an die eigene Wirkmacht glauben. Diese Menschen sehen keinen Sinn mehr darin, die 8. gleiche Massenaktion mit viel Einsatz und Kraft durchzuziehen. Diese Menschen, ihre Erfahrung, ihre Kraft und ihren Mut verliert das Bündnis Schritt für Schritt und sollte es 202x endlich aufhören mit der Frage „warum 202x?“ sind vielleicht neue Menschen am Start, aber keine mehr, die mit Erfahrung solch einen nächsten Schritt sicherer machen und gut vorbereiten können.

Weiterhin steht die Frage im Raum, was ist Hauptaufgabe einer ZU-Akteurin? Das Bewirken von gesellschaftlichem Wandel, das Verschieben von Diskursen oder das Anwerben und Anlernen neuer Aktivist_innen – die dann was tun? Wieder und wieder dieselbe Aktion?
Ist es Hauptaufgabe bedingungslos anschlussfähig zu sein, Entscheidungen nicht eigenständig, sondern nur nach Rücksprache mit und „grünem Licht“ von z.B. NGOs zu treffen und das eigene Handeln an ihnen auszurichten? Liegt der Fokus in 1. Linie auf freundlicher Presse und breiter Zustimmung? Sollte Ende Gelände nicht selbstbewusster und mutiger sein? Ist Ende Gelände das nicht eigentlich auch, wenn es sich an seinen eigenen Aussagen und Slogans misst?
Jede_r sollte einen Platz finden sich einzubringen und es wäre großartig, wenn Ende Gelände der Platz für diese Vielfalt auch in Aktionsformen wäre. Niemensch wird eine Aktionsform weggenommen, niemensch eine solche aber auch zu verwehren, zeigt Größe und Solidarität. All das gesagt unter dem Gesichtspunkt, dass klare Grenzen gesetzt sind und das es das Bündnis dadurch in der Hand hat, zu steuern und Spielräume zu definieren. Diese Möglichkeit wird verspielt durch zu langes Hinauszögern, weil sich Entwicklungen nicht dauerhaft stoppen und ausschließen lassen.

Die Optionen sind vielfältig, müssen diskutiert, einige ausprobiert, angepasst und gegebenenfalls auch wieder verworfen werden – eingebunden in eine Massenaktion, abseits einer solchen oder sogar tatsächlich als eigene Massenaktion ähnlich wie es “Castor schottern” in der Anti-Atombewegung war? Das muss und wird sich zeigen. Es gibt sicher nicht den einen, perfekten Weg und eine richtige Antwort. Aber der Stillstand (auch in Gedanken) muss zunächst überwunden werden.

Erklärung zum Austritt aus der Partei Bündnis 90/Die Grünen

Vermutlich wirft mein Austritt Fragen auf, löst bei einigen Personen vielleicht auch Verwunderung aus, weshalb ich mit dieser Erklärung versuchen will, für Klarheit zu sorgen.

Schon lange vor meinem Eintritt in die Partei war ich in Bereichen aktiv, die in meinen Augen Grüne Themen schlechthin waren. Die schwierige Regierungsbildung nach der letzten Bundestagswahl gab den Ausschlag, mich in der Partei zu organisieren aus der Hoffnung heraus, auf parteipolitischer Ebene ein kleiner Teil einer so dringend notwendigen Veränderung zu sein, lokal und auf Bundesebene.

Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, durch meinen Austritt deutlich zu machen, in welch gravierendem Ausmaß diese Hoffnung enttäuscht wurde. Großen Versprechungen und wohlklingenden Worten folgten keine Taten, im Gegenteil, Ideale wurden verraten und dem eigenen Machtinteresse in Form von Regierungsbeteiligungen nur allzu leicht geopfert. Das seit Wochen zu beobachtende Anbiedern in Richtung einer schwarz-grünen Koalition nach der nächsten Bundestagswahl ist nur schwer auszuhalten. Soli-Fotos mit Aktivist*innen, Auftritte auf Demonstrationen der Fridays For Future – Bewegung, am Hambacher Forst oder beim Dannenröder Wald sind kaum zu ertragen angesichts dessen, was sich dann in Grüner Politik widerspiegelt. Parteipolitik als ständiger Wahlkampf, als die Ablehnung eigener Verantwortung, um Schuldzuweisungen gegenüber allen anderen zu äußern, als Verleugnen einer sich bereits im Gange befindlichen globalen Katastrophe, indem ihr Grenzwerte anpasst, Ausstiegsdaten verschiebt und Verträge feiert, die bereits beim Abschluss zum Scheitern verurteilt sind und/oder viel zu geringe Durchschlagskraft besitzen – das ist kein Handeln, welches uns alle auch nur einen Schritt vorwärtsbringt.

Ich muss und will keinen Hehl daraus machen, dass ich in der Besetzung des Hambacher Forstes aktiv bin, ebenso wie im Dannenröder Wald, mich in den vom Kohleabbau bedrohten Dörfern engagiere, dass ich mein Zuhause für politisches Arbeiten bei Gruppen wie Ende Gelände gefunden habe und überall dort Menschen kennenlernen durfte, die einstehen für das, wofür sie kämpfen. Menschen, die ihre eigenen Pläne und Ziele im Leben hinten an stellen, finanzielle Sicherheit, körperliche und seelische Gesundheit, Familienleben und Freundschaften riskieren, ebenso wie massive Repressionen staatlicher und juristischer Seite in Kauf nehmen, um etwas zu verändern. Diese Menschen sind Held*innen und Vorbilder und sie sind es, auf deren Rücken der Aufschwung für Grün begründet liegt. Jetzt schaue ich nach Hessen und NRW und einmal mehr sind es diese Menschen, die verprügelt, verhaftet, beschimpft, beleidigt und im Stich gelassen werden, auch und gerade von Grüner Politik.

Aktivist*innen werden von den Grünen Hessen angezeigt, weil sie im Parteibüro Blätter aus dem Dannenröder Forst verstreut haben. Die Grünen Hessen schaffen es nicht, geschlossen in einer von Anfang an lediglich symbolischen Geste, die im Hessischen Landtag seitens der Linken eingebrachte Forderung nach einem Rodungsstopp und Moratorium für den Dannenröder Forst zu unterstützen. Sie bleiben in einer Koalition, die die Räumung und Rodung des Waldes trotz Corona, einer sich täglich verschlimmernden Klimakatastrophe und aufgrund eines 40 Jahre alten, heute nicht mehr genehmigungswürdigen Beschlusses gnadenlos durchpeitscht. Der Dannenröder Forst mag wie der Hambacher Forst lediglich ein Symbol sein für verfehlte Energie- und Verkehrspolitik in Deutschland, sie sind aber deshalb nicht weniger relevant, wenn wir die Augen auf die umfassende Katastrophe richten, die sich in Form des so verharmlosend als Klimawandel bezeichneten Vorgangs abspielt. Die Klimakatastrophe setzt sich zusammen aus vielen einzelnen Katastrophen, die täglich Menschenleben kosten, die Fluchtursachen schaffen und Lebensgrundlagen dauerhaft vernichten. Die Klimakatastrophe ist zu großen Teilen eine europäisch verschuldete, weil Kolonialismus und Kapitalismus Triebfedern des europäischen Handelns waren und sind. Wirtschafts-, Kapital- und Konzerninteressen vor Menschenleben – auch ihr als Grüne Partei tragt dieses Handeln täglich mit. Ihr strebt nach einem „Green New Deal“, während es angesichts der dramatischen Ereignisse und düsteren Prognosen klar sein sollte, dass es keinen Grünen Kapitalismus gibt und immer neue deals nicht die Lösung sind. Ihr verweigert euch radikalen Forderungen und Utopien, um Macht in Form von Regierungsbeteiligungen zu erlangen und Posten nicht zu verlieren.

Jetzt ist für mich der Punkt gekommen, an dem ich dies nicht mehr mittragen kann, will und werde. Ich kenne die Menschen, die im Rheinland ihr Zuhause verlieren, am Rande von Kohlegruben gekesselt, mit Pferden und Hunden attackiert werden, die im Hambacher Forst täglichen Schikanen ausgesetzt sind und die im Dannenröder Wald von Bäumen gezerrt und mit Schmerzgriffen in Polizeifahrzeuge geschleppt werden. Ich kenne sie, weil ich zeitweise immer wieder eine von ihnen bin und es fühlt sich zunehmend wie ein Verrat ihnen gegenüber an, weiterhin Mitglied dieser Partei zu sein. Diese Menschen haben meinen Respekt, meine Dankbarkeit und meine volle Solidarität, denn wir alle tun täglich mehr für Klimagerechtigkeit, die Überwindung von Diskriminierungen und Unterdrückungen jeglicher Art als es eine Partei im dauerhaften Wahlkampfmodus jemals vermag. Umso mehr, wenn sich diese Partei der Verantwortung entzieht, die Augen verschließt vor Ungerechtigkeiten, schweigt, wenn es darauf ankommt, in Symbolpolitik verhaftet ist und mit aller Macht an schon zu lange bestehenden kapitalistischen und patriarchalen Strukturen festhält, während deren Überwindung das eigentliche Ziel sein muss. Ich nehme wahr, dass es einzelne Personen innerhalb der Grünen gibt, die aufstehen, die klare Worte finden und auch den Mut haben, entsprechend zu handeln. Diese Personen stellen sich an die Seite von Aktivist*innen, geben den Menschen in Lagern an den europäischen Außengrenzen eine Stimme und benennen den zunehmenden Rechtsruck Europas als das, was es ist: aufsteigender, globaler Faschismus. Sie haben meinen Respekt und meine Dankbarkeit. Ich hoffe, diese Personen werden nicht verstummen.

Ich persönlich sehe innerhalb der Partei keinen Weg, Klimagerechtigkeit zu erreichen, dem Faschismus ernsthaft entgegenzutreten und neue Arten des Zusammenlebens Realität werden zu lassen. Deshalb trete ich hiermit aus der Partei Bündnis 90/Die Grünen aus.

Wenn der Täter uns entlarvt

Wir alle, die wir uns dem linken politischen Spektrum zuordnen, haben klare Haltungen und starke Positionen. Wir haben Selbstverständnisse, Transparente mit eindeutigen Botschaften und wir erklären uns selbstverständlich solidarisch mit all den Kämpfen, die es zu führen und zu unterstützen gilt: gegen das Patriarchat, gegen Gewalt gegenüber Frauen, für Feminismus, Frauenrechte…Wir sind eindeutig auf der „richtigen und guten Seite“.

Diese Selbsteinschätzung hält stand, so lange Personen involviert und betroffen sind, die außerhalb unserer Gruppen sind. Sie hält auch noch stand, wenn das Opfer (ab jetzt „die betroffene Person“/“Betroffene“) in unseren Kreisen zu finden ist, aber der Täter außerhalb steht.

Diese SelbstÜBERschätzung bricht laut krachend in sich zusammen, wenn Täter und Betroffene innerhalb unserer Gruppen zusammenkommen. In diesem Fall werden wir alle enttarnt und es gilt zu zeigen, wie viel unsere Haltungen, Positionen, Selbstverständnisse und bunten Banner wert sind. In diesem Fall tun sich Abgründe auf, von denen ich nicht zu glauben gewagt hätte, dass sie bei „uns“ existieren. Abgründe, in die ich niemals hätte blicken wollen innerhalb „meiner Gruppen“, bei Menschen, die ich als Freund*innen bezeichne und bei denen ich das nun ernsthaft überdenken muss.

Ich musste während der letzten Tage innerhalb linker Gruppen und von Freund*innen zum Teil Dinge hören und lesen, die mich auf eine Weise getroffen haben, die ich nicht in Worte fassen kann: fassungslos, schockiert, entsetzt, verletzt, abgestoßen…all das trifft zu und beschreibt es doch nicht ansatzweise.

Täter sexualisierter Gewalt und Betroffene dieser Tat sind Teil der gleichen Gruppen, Teil eines Freundeskreises. Hier ist sie nun also zusammengebrochen, die Selbsteinschätzung, die heile, reflektierte linke Welt. Sie ist in tausende kleine Teile zersprungen und ich bin mir nicht sicher, ob es möglich ist, alles wieder zu kleben, ob wir es überhaupt versuchen sollten. Die Masken sind scheppernd gefallen.

Es gibt keinen erprobten, kollektiven Umgang mit sexualisierter Gewalt innerhalb linker Strukturen. Diese Feststellung offenbart ein riesiges Problem, an dessen Lösung wir alle ganz dringend arbeiten müssen. Das dieser Umgang fehlt, hat im Ernstfall gravierende Auswirkungen. Linke Gruppen werden gelähmt, brechen auseinander und politische Arbeit kommt zum Erliegen. In Anbetracht all der Probleme, die wir eigentlich zu bekämpfen haben (Rassismus, Rechtsterrorismus, Klimakrise, Lobbyismus, das Erstarken von Nazis und ihren Netzwerken, Kapitalismus, Patriarchat…), können wir es uns aber nicht leisten, dass politische Arbeit zum Erliegen kommt. Allerdings ist dieser Aspekt für mich aktuell nur der untergeordnete. Für mich persönlich ist momentan noch weitaus dramatischer, dass ich Menschen, Freund*innen von Seiten kennenlernen muss, die sie im Rahmen von linker politischer Arbeit (unbewusst?) so vollständig hinter Slogans, Selbstverständnissen und Positionspapieren verstecken und die sie überspielen konnten, dass ich entsetzt bin. Ich hinterfrage mein Verbleiben in bestimmten linkspolitischen Gruppen, die seit Jahren wichtiger Teil meines täglichen Lebens waren, in denen ich mich sicher, wohl und gut aufgehoben gefühlt habe. Ich hinterfrage Freundschaften.

Wurde uns durch eine Tat im eigenen Umfeld die Möglichkeit genommen, den Täter „außerhalb“ zu verorten und dementsprechend klar mit Tat und Täter umzugehen und oft erprobte Automatismen abzurufen, wird auf einmal hinterfragt, relativiert, bedingungslose Solidarität verweigert und stattdessen Begriffsdiskussionen gestartet: Was heißt „bedingungslos“? Was bedeutet „Solidarität“ in diesem Zusammenhang? Worüber reden wir genau, wenn wir von sexualisierter Gewalt reden?…

Das alles würde nicht geschehen, wenn der Täter außerhalb der eigenen linken Strukturen zu suchen wäre. DAS ist falsch, erschreckend, entlarvend und extrem bedenklich. Diese Erkenntnis ist neben der Tat an sich das zweite „Undenkbare“, „Unvorstellbare“ und „Unmögliche“ was über die betroffene Person und all diejenigen von uns hereinbricht, die bedingungslos an ihrer Seite stehen und die versuchen, zu helfen und zu unterstützen, wo es nur geht. Hier finden unzählige, grausame Retraumatisierungen statt, hier finden – sicher in anderem Umfang und auf einem anderen Level – auch Ersttraumatisierungen statt. Der Täter ist der Auslöser, aber die Gruppen und Menschen, die der betroffenen Person und denen, die sie unterstützen, jetzt Schutz, Rückhalt und Hilfe sein sollten, sind es in Teilen nicht. Sie werden durch dieses Verhalten zu wesentlichen Akteur*innen auf der falschen Seite.

Aus Gründen, die in unseren politischen Ansichten begründet liegen, rufen wir nicht die Exekutivorgane des Staates um Hilfe an. Wir wenden uns an interne Strukturen bestehend aus unseren Genoss*innen, Freund*innen, Mitstreiter*innen. Wir setzen auf diese und glauben an sie. Wir haben nicht erwartet, dass wir Solidarität einfordern müssen, wir haben nicht erwartet, dass wir uns rechtfertigen und erklären müssen und wir wurden von einigen extrem enttäuscht.

Diesen Menschen kann ich nur sagen: lest eure eigenen Selbstverständnisse und Prinzipien und überlegt, ob ihr denen gerecht werdet.

Respekt für die Wünsche und Grenzen der Betroffenen!

Klare Positionierung auf Seiten der Betroffenen und bedingungslose Solidarität!

„Was brauchst Du?“ ist die zunächst einzig relevante Frage!

Was können wir tun, um sichere Räume für die Betroffene zu schaffen und ihr in diesen (wenn gewünscht) wieder politische Arbeit zu ermöglichen?

Keine weitere Zusammenarbeit mit und Unterstützung für den Täter!

Ganz explizit aber auch ein riesiges Dankeschön an die Menschen und Gruppen, die sich genauso verhalten haben. Auch davon gab es einige und es ist gut zu wissen, wer ihr seid.

Mut zur Wahrheit – Hygienedemo in Meiningen

„Mut zur Wahrheit“, Meiningen, 09.08.2020

Ein paar Tage Zuhause, so etwas wie Urlaub, Waldspaziergänge mit Hund…doch dann war da „Mut zur Wahrheit“, eine Gruppe, die sich als Querdenker und Selbstdenker (sic!) bezeichnen und die zum inzwischen 14. Mal in Meiningen mobilisierten. Zusammen mit dem „Neuen Schmalkaldischen Bund“, Unterstützung aus Erfurt und den Montagsspaziergängen in Bad Salzungen finden wöchentlich in verschiedenen Städten Versammlungen statt. Berlin noch im Hinterkopf opferte ich meinen Nachmittag, um mir das anzusehen und ich bin schockiert, denn das, was ich da hören musste, zeigte eines deutlich: eine brandgefährliche Hygienedemo fand heute in Meiningen statt. Da waren keine meditierenden Menschen, keine Grundgesetz-haltenden, singenden Menschen. Was sich in Meiningen versammelte, waren Reichsbürger*innen, Verschwörungstheoretiker*innen der besorgniserregenden Art, Rassist*innen und Faschist*innen. Hier mein Bericht, der länger ausgefallen ist als geplant. Da die Hygienedemos in Meiningen aber bisher ohne jeglichen Gegenprotest oder auch nur Dokumentation stattfanden, ist es an der Zeit, dies in einer etwas ausführlicheren Form hier einmal zu tun.

Gleich zu Beginn bildete Xavier Naidoo die musikalische Umrahmung für die Begrüßung und Eröffnung der Versammlung, zu der sich anfangs ca. 60 Menschen auf der Wiese hinter dem Schloss Elisabethenburg eingefunden hatten. Am Ende waren ca. 100 Menschen anwesend, womit wieder ein leichter Anstieg im Vergleich zur letzten Versammlung festzuhalten bleibt.

Die Begrüßung und diverse Reden übernimmt Andreas Schmäußer, Inhaber eines Planungsbüros aus Reurieth, einer der Köpfe hinter „Mut zur Wahrheit“.  Schmäußers Name trat bereits mehrmals zumindest im Hintergrund in Erscheinung, wenn Nazis verschiedener Gruppierungen versuchten, Immobilien im Umland zu erwerben. Er wirkt teilweise eher wie ein Marktschreier, wenn er laut lachend Sitzgelegenheiten verteilt, schlechte Witze macht und die Anwesenden größtenteils bereits namentlich anspricht.

„Hallo Patrioten, die für ihr Vaterland auch mal schwitzen und es bedauern, dass es nicht noch 5 Grad mehr hat. Nach Berlin kann uns keiner mehr aufhalten.“ Damit ist klar, dass Berlin und die Großdemonstration am 01.08.2020 das Thema dieser Veranstaltung sein wird, dass dieser Tag den Hygienedemos nochmal einen riesigen Schub versetzt hat und er für uns alle, die wir seit Monaten Gegenprotest auf die Straße bringen, ein massiver Rückschlag war, da er PR-mäßig sehr gut von Veranstalter*innen wie Schmäußer genutzt wird.

Schmäußer macht während seiner diversen Redebeiträge keinen Hehl aus seiner Reichsbürger-Gesinnung. Er spricht in Bezug auf Deutschland ausschließlich von der BRD GmbH, in der „Normalbürger (sic!) das Personal für eine abgehobene Elite“ sind. Er zieht absurde Vergleiche zu den Protesten in der DDR 1989: „Das System wurde gestürzt und wir machen das jetzt wieder. Berlin war das Startsignal.“ Ehe er an weitere Redner*innen übergibt, kündigt er einige Termine an. „Hier ist ein Aufruf nach Berlin, am 29.08. kommen wir, um eine neue Zeit einzuläuten.“ Er fordert die Besucher*innen auf, in seinen Ruf „Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin“ einzustimmen, die Resonanz ist allerdings eher kläglich. Für den 03.10. stellt er ein „Familienfest“ in Aussicht, für das er 5000 Menschen auf die Straßen Meiningens mobilisieren möchte. Die Ziele für Berlin sind nochmal deutlich höher: „Aus den 1,3 Millionen werden wir am 29.08. drei Millionen machen. Die Lügenpresse wird nicht mehr davonkommen mit ihren falschen Zahlen.“ Damit ist ein weiteres großes Thema erreicht, welches alle Hygienedemos eint: die Ablehnung der Presse, die man als Lügenpresse bezeichnet, sie als „von der Regierung gelenkt und gleichgeschaltet“ oder von „Gates bezahlt und gesteuert“ betrachtet. Schmäußer fordert die Anwesen auf: „Teilt nichts, was nicht in unsere Richtung läuft.“ Der Absurdität dieses Satzes angesichts der vorherigen Unterstellungen ist sich keine*r der Anwesenden bewusst…Für seine Gruppe „Mut zur Wahrheit“ hat er ebenfalls große Pläne. Er möchte wachsen, auch in anderen Städten aktiv werden und sich vernetzen. Dafür bittet er wiederholt um Spenden, aber auch um „mutige Patrioten (sic!), die in den Strukturen und der Organisation aktiv werden wollen. „Wir wollen jede Position in der Struktur doppelt besetzen, damit wir handlungsfähig sind und bleiben, so lange dieser Kampf dauert.“

Klaus-Dieter aus Wasungen übernimmt nun. Laut eigener Aussage ein ehemaliger Polizist, der nicht länger schweigen will. Er ist anhand seiner Äußerungen im besten Falle ein geistiger Brandstifter zu nennen, im schlimmsten Falle wird er ein weiterer Einzelfall mit Verbindungen zur Polizei sein. Den 01.08. bezeichnet er wiederholt als Zeitenwende: „Das deutsche Volk erhebt sich, die Welt sieht es. Das Corona-Konstrukt wurde gegen uns gerichtet, aber es bricht jetzt zusammen.“ Weiter geht es auch bei ihm mit wirren Ideologien und Reichsbürgeransichten: „Das Grundgesetz wurde mit der angeblichen Wiedervereinigung abgeschafft. Diese Wiedervereinigung hat nie stattgefunden. Die DDR wurde abgeschafft und hat sich mit dem nicht existierenden Staat der BRD GmbH vereinigt – wie kann das sein? Wir leben seit 1989 in einem rechtsfreien Raum.“, redet er sich in Rage. Dann verkündet er eine große Neuigkeit, die allen Mut geben soll, die noch frei und selbstständig denken: „Es gibt inzwischen schon einen rechtmäßigen Bundesstaat Deutschland (BSD) mit allen Strukturen, ein Parallelstaat und eine Parallelregierung. Das alles existiert, seit 1994 wartet eine verfassungsgebende Versammlung darauf, dass sie genau das tun darf – endlich eine Verfassung geben – und wir werden dafür sorgen. Meine Botschaft an Merkel und Co: ihr räumt den Bundestag bald.“ Für weitere Nachfragen und genauere Infos stehe er jederzeit gerne in kleinerem Rahmen zur Verfügung.

Schmäußer stimmt hier begeistert ein: „Wir mutigen Patrioten wachsen, unser Außenministerium (!!!!) hat schon Kontakte aufgenommen. Wir werden von Merkel und Co. Tribute fordern, auch wenn sie Granaten auf uns schießen werden und das werden sie, wenn wir mit drei Millionen nach Berlin kommen. Aber ihr wisst es jetzt: niemand muss Angst vor Chaos haben, es gibt bereits eine Übergangsregierung, die bereit ist, sobald Merkel und Co. weichen.“

In den folgenden Aussagen Schmäußers kommt klar und eindeutig Rassismus zum Vorschein, der später auch noch in anderen Redebeiträgen aufgegriffen wird. Schmäußer: „Umweltschutz ist wichtig, aber es ist nicht der Deutsche, der die Welt verdreckt.“ Es wird wiederholt deutlich, dass 2014 als Einschnitt wahrgenommen wird, ab welchem man sich nicht mehr sicher fühlte. Finanzamt, Presse, Regierung – das alles sind inzwischen Feindbilder für die Anwesenden. Zwischen den Redebeiträgen werden Lieder gesungen, hier ein Textauszug: „wir sind nicht links, nicht rechts, wollen schon gar nicht die Mitte sein, wir sind das Volk, das für sein Vaterland aufsteht.“

Kurz meldet sich jetzt Michael Kloss (?) zu Wort. Ein Mann mit Cowboyhut und Bart, der sich als einer der Veranstalter vorstellt. Auch er bitte um Spenden und möchte Menschen motivieren, sich aktiv in Orga-Strukturen einzubringen.

Die nächste Rednerin ist Jana, sie arbeitet in einer Schule, was ich besonders bedenklich finde. Jana war in Berlin und sie berichtet von ihren Bedenken, dies hier öffentlich zu äußern. Sie habe Angst, dass das Gesundheitsamt und der Verfassungsschutz vor ihrer Tür stehen, um Abstriche zu erzwingen. Allerdings habe sie noch immer Herzklopfen, wenn sie an das „tolle und kraftvolle Friedensfest in Berlin denkt“ und deshalb habe sie sich entschlossen, mutig zu sein. Jana schürt die nebulöse Angst vor Zwangsisolationen/-herausnahmen von Kindern aus ihren Familien. „Mein Mann bleibt deshalb jetzt im Hintergrund, um im Fall der Fälle handlungsfähig zu bleiben“, erklärt sie. Vor Kurzem sei sie von der Direktorin ihrer Schule in deren Büro gerufen worden. Dort wurde sie aufgefordert, „ihre Teilnahme an fragwürdigen Veranstaltungen zu unterlassen“. Sie beklagt diese Drohungen, die Angst vor dem Verlust des Jobs mit sich bringen und das nur, weil man nicht gleichgeschaltet sei. Ihre Konsequenz aus diesem Gespräch lässt zumindest mich einigermaßen verdutzt zurück: „Ich habe alle meine WhatsApp-Kontakte, die mit der Schule in Zusammenhang stehen, so blockiert, dass sie meine Statusmeldungen nicht mehr sehen können, denn von dort hatte meine Chefin die Informationen.“ Im Weltbild der Besucher*innen dieser Veranstaltungen erscheint das völlig logisch und ausreichend, Jana erhält Applaus und dieser tut ihr sichtlich gut, so dass sie lautstark verkündet, auch am 29.08. wieder in Berlin zu sein, um Zeugin des historischen Moments zu werden.

Trixi übernimmt das Mikro. Sie trägt eine Bandage am Knöchel, berichtet vom Urlaub in Kroatien, wo sie beim Fotografieren umgeknickt sei. Gereist wurde extra mit dem Auto, um den Grenzkontrollen und Zwangstests am Flughafen zu entgehen. Zurück in Deutschland sei sie wegen ihres Knöchels in die Notaufnahme gegangen: „Ich trage keinen Mundschutz, im Krankenhaus trage ich auch keinen Mundschutz, mir wurde deshalb Behandlung verweigert“, empört sie sich und fährt fort: „Als ich den Nachnamen des Arztes hörte, der mich zwingen wollte, den Maulkorb zu tragen und meine Daten anzugeben, musste ich aufpassen, dass ich nichts Falsches sage. Ich habe schon mit der Polizei telefoniert, es wird ein Nachspiel haben, wenn deutschen Bürgern die Behandlung verweigert wird.“ Trixi ist in Begleitung da und wird stolz von ihrem Lebensgefährten gefilmt. Er selbst steht am Rande und ist mein ständiger Begleiter. Als schwarz gekleidete Person und als Einzige mit einem Mund-Nasen-Schutz falle ich von Beginn an auf wie der sprichwörtliche bunte Hund. Ich werde von Anfang an argwöhnisch beobachtet und von Trixis Begleiter auf Schritt und Tritt verfolgt. Irgendwann spreche ich ihn an und frage, ob ich ihm helfen kann, da er offensichtlich großes Interesse an mir hat. Ich werde umgehend bedroht: „Sie fotografieren die Personen hier, Sie sind sicher die Antifa und ich garantiere Ihnen, wenn ich ein Foto von mir irgendwo sehe, verklage ich Sie. Da können Sie nur hoffen, dass Ihnen Gates und die Antifa finanziell den Rücken freihalten.“ Eine Antwort bleibe ich ihm schuldig – was soll ich darauf auch erwidern, was nicht zur Eskalation führen könnte? Allerdings war das nur der Auftakt für weitere Bedrohungen und Beleidigungen, die von nun an aus der Versammlung heraus an mich gerichtet werden. Man droht mir u.a., mir „den Maulkorb vom Gesicht zu reißen“. Als ich mich irgendwann vier Teilnehmer*innen gegenübersehe, die wild gestikulierend auf mich einreden, steigt einer der zwei anwesenden Polizisten aus dem Dienstfahrzeug und kommt gemächlich auf uns zu. Wie nicht anders zu erwarten, fragt er zuerst mich, wieso ich die Versammlungsteilnehmer*innen provoziere. Ich verweise auf meinen Presseausweis, den öffentlichen Charakter dieser Veranstaltung, der mir das Recht gibt, Fotos der Anwesenden zu machen. Dem Polizisten gegenüber weise ich mich mit meinem Presseausweis aus, verweigere ihm aber, meine Fotos zu überprüfen. Ich biete ihm an, das Pressegesetz auf meinem Handy einzusehen und mir den Paragraphen zu zeigen, der mich zur Herausgabe/Vorlage meiner Fotos zwingt. Der Polizist ist überrumpelt und überfordert. Er geht zurück in sein Fahrzeug und ich bin wieder auf mich allein gestellt. Mein Bewacher bleibt an meiner Seite, während ich nun Rita lausche, einer Frau in den 60ern. Rita Breuning kann kurz und knapp beweisen, dass Corona samt den Tests nur ein Vorwand für etwas anderes ist: „Wer vermeintlich Symptome hat, Schnupfen und Fieber, und getestet werden will, wird nicht getestet. Aber wir anderen sollen alle zwangsgetestet werden. Das zeigt, das hier ganz andere Dinge dahinterstecken. Es geht um Überwachung und Gedankenkontrolle.“ Rita Breuning ist in Meiningen durchaus bekannt. Immer mal wieder verteilte sie in kleinerem Stil Infomaterial, welches thematisch im religiös-esoterischen Bereich anzusiedeln ist und Themen wie Liebe, Vergebung und den Glauben an Engel aufgreift.

Ich höre mir das alles nur noch fassungslos an und versuche, mir möglichst viele Notizen zu machen. Nicole fragt die Anwesenden: „Wo sind die Lehrer (sic!) und Eltern? Wann wachen sie endlich auf? Kinder werden schon im Kindergarten indoktriniert und jetzt auch noch mit dem Segen des Schulamtes massiv gefährdet. Noch haben wir Sommerferien, aber ich werde mein Kind nicht in die Schule schicken, wenn die Maskenpflicht kommt. Die Kinder werden traumatisiert, ihrer Kindheit beraubt und ihre seelische und körperliche Gesundheit gefährdet. Verklagt Lehrer (sic!) und Schulen, die so etwas durchsetzen.“ Weiter berichtet sie von Stellenausschreibungen der Jungendämter, die gezielt Mitarbeiter*innen einstellen, „um Kinder aus Quarantänefamilien weiterzuverteilen“. Sie spricht von einer Diktatur: „Ich kann auf einer Demonstration nicht sagen, was ich denke. Ich muss um meinen Job und um meine Kinder fürchten. Die Regierung führt Krieg ohne Waffen gegen uns, gegen Familien, gegen alle, die nicht gleichgeschaltet sind & nicht zu Maulkorbträgern geformt wurden. Deutschland ist eine Diktatur.“

Der nächste Mensch am Mikrofon fällt durch hohe Aggressivität auf. Er stellt sich als Thomas (Pankwart?) aus Bibra vor, arbeitet seiner Aussage nach inzwischen in der Schweiz, wo er in den letzten Monaten einen Supermarkt umgebaut habe: „In der Schweiz gibt es keine Maskenpflicht. Ich habe in den letzten Wochen 15000 Personen im Rahmen meiner Arbeit getroffen, alle ohne Masken, niemand ist krank. Maskenträger (sic!) und die, die diese Gleichschaltung verantworten, sind Abschaum und müssen bekämpft werden.“, schreit er den Menschen regelrecht zu. „Mit Berlin ist die Angst vorbei, die Zeit der Freiheit ist da. Merkel und Co., gebt eure Macht freiwillig ab, sonst seid ihr verantwortlich für das, was wir alle nicht wollen.“ Klarer kann man kaum formulieren, was Menschen wie Thomas sich wünschen und was einige sicher bereit sind, in die Tat umzusetzen.

Schmäußer schaltet sich nochmals absolut euphorisch ein: „Der links-grün-faschistische Genderwahn ruiniert uns. Lasst uns eine neue Welt erschaffen. Ich will keine bunte Welt. Ich will eine Welt in der alle Völker klar ersichtlich neben-, aber nicht miteinander leben.“

Es ist jetzt gut eine Stunde vergangen. Nun werden drei Gesprächskreise gebildet. Es gibt keine thematische Abgrenzung, es soll lediglich jeder/jedem Raum gegeben werden zum freien Austausch. Schmäußer verteilt nun „Redestäbe“ und erklärt: „Wir haben keine Hierarchien, alle sind gleichberechtigt. Aber es gibt klare Strukturen. Wer den Stab hat, darf nicht unterbrochen werden und alles sagen, was er (sic!) möchte – wie bei den alten Germanen.“

Dieses absurde Schauspiel zieht sich eine weitere Stunde hin. Dann scheint das Ende des angemeldeten Versammlungszeitraums erreicht. Das wird schon dadurch erkennbar, dass der Polizist noch einmal seinen Dienstwagen verlässt und in Richtung der Veranstalter*innen auf die Uhr deutet. Diese verstehen das Signal und beenden die Veranstaltung offiziell. Schnell wird noch auf die nächste Versammlung um 18:00 in Schmalkalden (ca. 25 km entfernt) hingewiesen, die Organisator*innen beladen ihre Fahrzeuge, um rechtzeitig dort zu sein, die Polizei fährt weg, während alle Gesprächskreise unverändert weiterlaufen.

Jetzt werde ich einmal mehr beleidigt und beschimpft und langsam reicht es mir dann auch, so dass ich mich auf den Heimweg mache.

Ich habe in anderen Städten schon ein paar Hygienedemos erlebt, die Themen waren immer ähnlich, doch so aggressiv und gefährlich in ihren Reden und Aussagen habe ich noch keine Demo vorher wahrgenommen. Meiner Meinung nach zeigt sich auch daran eines sehr deutlich: ohne Gegenprotest und Beobachtung durch Antifaschist*innen gewinnen die Rassist*innen, Faschist*innen und gefährliche Verschwörungstheoretiker*innen klar die Oberhand über Esoteriker, Meditierende und sogenannte „besorgte Bürger*innen“. Hygienedemos brauchen überall Widerstand oder zumindest Menschen, die das, was dort gesagt wird, dokumentieren. Es darf auch in diesem Bereich kein ruhiges Hinterland geben.

Ein Pressevertreter der Lokalzeitung “Meininger Tageblatt” (https://www.insuedthueringen.de/region/meiningen/) begleitete die Versammlung von Anfang bis Ende. Er begrüßte die Verantwortlichen mit Handschlag, ging immer wieder in freundliche, eher privat und vertraut wirkende Gespräche mit den Anwesenden und wurde in keinster bedrängt und/oder bei seiner Arbeit eingeschränkt. Wirft man einen Blick auf seine wöchentlichen Bericht über diese Versammlungen, erklärt sich mir, warum Widerstand und kritische Stimmen aus der Bevölkerung ausbleiben. Die Berichterstattung verharmlost, verzichtet auf die klare Benennung von Redner*innen und ihren Forderungen, klammerte rassistische Äußerungen genauso aus wie Forderungen nach einem Umsturz. Die Menschen wünschen sich den Rücktritt Merkels und schildern ihre Ängste vor Zwangsimpfungen – viel mehr Inhaltliches sucht man vergebens.

Die Polizei war in Meiningen quasi nicht präsent, Auflagen wie Abstandsregeln wurden zu keiner Zeit beachtet, Menschen hielten sich auch außerhalb des ausgewiesenen Versammlungsbereiches unbehelligt auf, es wurden keine Aufnahmen der Redner*innen gemacht, was in Anbetracht dessen, was diese teilweise äußerten, nur als fahrlässig bezeichnet werden kann. Zufällig vorbeikommende Passant*innen ignorierten das Geschehen völlig oder belächelten „die Idioten“ im Vorbeigehen. Niemand achtete auf das, was dort gesagt wurde, niemand widersprach oder fragte nach. Völlig unbehelligt können hier Strukturen und Ideen gedeihen, die brandgefährlich werden können.

Statement von Ecodefense

Die Aktivist*innen von Ecodefense in Rußland haben ein Statemetn veröffentlicht, welches die dramatische Situation in Rußland verdeutlicht, wo u.a. die Steinkohle gewonnen wird, die Datteln4 verfeuert. Die Menschen gehen im Rahmen ihres Widerstandes hohe Risiken ein, denn die politische Situation in Rußland führt auch immer wieder zu Angriffen auf und Morden an Aktivist*innen. Eine Vertreterin von Ecodefense war im Februar vor Ort, als Ende Gelände das Kraftwerk Datteln4 blockierte. Jetzt ist es Zeit, dass wir alle ihr aufrüttelndes Statement teilen, lesen und dann einsteigen in den Kampf gegen Kohle und Atomkraft weltweit! Deshalb hier & heute kein Beitrag von mir, sondern die Worte der russischen Aktivist*innen.

Liebe Freund*innen und Mitstreiter*innen,
herzliche Grüße aus Russland, wo die Grenzen wegen der Corona-Pandemie geschlossen wurden und Putin Druck macht, die Verfassung so zu ändern, dass er unbefristet an der Macht bleiben kann. In diesen schweren Pandemie-Zeiten versuchen viele dreckige Industrien die Situation zu ihrem Vorteil auszunutzen. Der Urananreicherer Urenco z. B. schickt Atommüll von Gronau nach Russland, weil die hiesige Atomindustrie den Atommüll aus kommerziellen Gründen gerne annimmt. Aufgrund der aktuellen Beschränkungen durch die russische Regierung – wir dürfen weder die Wohnung verlassen noch auf der Straße demonstrieren – profititiert die Atomindustrie von protestfreien Atomtransporten. Das hatten sie sich immer erhofft.
Urenco profitiert auch von der Pandemie, weil sie ihren gefährlichen Atommüll extrem einfach loswerden, indem sie alle drei bis vier Wochen Atomtransporte auf die Reise schicken. Während die Menschen sehr strikte Beschränkungen akzeptieren müssen, genießt die Atomindustrie unbegrenzte Freiheiten. Dazu zählt die “Freiheit”, atomare Probleme für zukünftige Generationen zu schaffen. Das Verschiffen von Atommüll nach Russland während der Pandemie ist nur ein weiteres Beispiel dafür, wie zynisch und unmenschlich die Atomindustrie agiert. Jeglicher Transport von Atommüll muss sofort gestoppt werden! Urenco sollte gezwungen werden, selbst Verantwortung für den eigenen Atommüll zu übernehmen!
Eine weitere federführende Todesindustrie ist die Kohleindustrie. Auch sie genießt in Russland große Freiheiten. Sie verheizt nicht nur das Klima dieser Erde, sie verheizt auch wortwörtlich die Zukunft von unserer und der nächsten Generationen auf diesem Planeten. Die Inbetriebnahme von Datteln IV bedeutet einen weiteren Schritt auf dem Weg zur globalen Klimakatastrophe. Hier geht es nicht nur um die deutsche Energiepolitik, hier geht es auch um die russische Kohle-Industrie. Beide sind dafür verantwortlich, dass sich die Chancen auf ein Überleben der Menschheit verringern, weil sich der Klimawandel beschleunigt.
Die Unverantwortlichkeit der russischen Atomindustrie kann mit der der Kohle-Industrie verglichen werden. Beide schaffen äußerst gravierende Konsequenzen für die Umwelt. Kohle zerstört nicht nur unsere Zukunft, sie zerstört aktuell auch die Häuser und die Heimat der Menschen in Sibirien. Die Luft im Kuzbass, der wichtigsten russischen Bergbau-Region, ist so vergiftet, dass die Menschen dort an Krebs erkranken, nur weil sie normal atmen. Das Wasser der Flüsse ist schwarz, Babies werden mit tödlichen Krankheiten geboren. Und diese Katastrophe wird größer mit der Realisierung jedes neuen Kohle-Kraftwerks wie das in Datteln. Denn Datteln IV bekommt auch Kohle-Lieferungen aus Sibirien!
Wir sprechen heute zu euch, weil es immer noch eine Chance gibt, diese Zerstörungen aufzuhalten und ein besseres Leben zu erkämpfen – ungeachtet der tödlichen Umweltzerstörung und ungeachtet der Corona-Beschränkungen. Wir können die Zerstörungen stoppen, wenn wir international zusammenarbeiten und uns dabei an einem sehr einfachen Prinzip orientieren: Kohle und Atom müssen für immer der Vergangenheit angehören – die Zeit ist schon lange reif für erneuerbare Technologien. Dies ist der einzige Weg in die Zukunft!
Wir richten uns heute auch direkt an die Bundesumweltministerin Svenja Schulze: Sie sind als Ministerin der Bundesregierung verantwortlich für die Genehmigung der Uranmüllexporte von Gronau nach Russland sowie für die Inbetriebnahme von Datteln IV. Damit sind Sie auch für den Import der russischen Kohle nach Deutschland mitverantwortlich. Wir wissen, dass Ihnen die
brandgefährlichen Konsequenzen dieser Entscheidungen für die Menschen und das weltweite Klima bewusst sind. Welche Beweggründe auch immer zu Ihren Entscheidungen geführt haben, wir fordern Sie eindringlich auf, alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um den Export des Uranmülls von Gronau nach Russland genauso zu stoppen wie den Weiterbetrieb von Datteln IV. Für die Zukunft der Erde und der Menschheit muss dies sofort geschehen!
Herzlichen Dank und solidarische Grüße
Alexandra Koroleva und Vladimir Slivyak – Co-Vorsitzende der russischen Umweltorganisation Ecodefense
Moskau, 7. Juni 2020

systemchange not climatechange

Die fff starteten auch endlich wieder in Würzburg. Da musste die Gelegenheit genutzt werden, um ein paar Dinge zu sagen.

Rede, Freitag, 5.6.2020, fff-Demo Würzburg

 
Systemwandel statt Klimakrise!
Coronakrise, Klimakrise, globale Ausbeutung insbesondere des globalen Südens, Ausbeutung von vielen Milliarden fühlenden Wesen in Tierfabriken, wachsende nationalistische Bewegungen & ebensolches Gedankengut, faschistische Regierungen, Fluchtursachen wie z.B. Krieg, Dürren, Hungersnöte, untragbare Zustände in Geflüchtetencamps an der EU-Außengrenze,  Polizeigewalt, insbesondere gegen Ärmere, Obdachlose, BIPoC, PoM, Frauen, sowie politische Aktivist*innen. Die Liste ist endlos lang. Doch was haben all die Punkte gemeinsam?
 
Diese gesellschaftlichen & globalen katastrophalen Zustände sind gekennzeichnet und verursacht durch Macht- und Herrschaftsansprüche & -verhältnisse und durch eine kapitalistische Ausbeutungslogik, die auf unendliches wirtschaftliches Wachstum abzielt ohne Berücksichtigung der planetaren Grenzen und ohne moralische Ansprüche an Ethik gegenüber Menschen, Natur & anderen Tieren. Gleichzeitig basieren diese Zustände auf einer herrschenden Klasse, die den Status Quo zur Not mit autoritären Mitteln und Gewalt erhalten will & die Massen mittels Lohnarbeit und kapitalistischen Konkurrenzdruck und Abhängigkeiten klein hält. Diskriminierungsformen wie Rassismus, Sexismus, Speziesismus & andere sind ein Teil davon. 
 
Um all diesen überwältigenden Problemen begegnen zu können, benötigt es einen radikalen Wandel. Sowohl in den Herzen und Köpfen, als auch in der Überwindung des auf Ausbeutung und Unterdrückung basierenden Systems des globalen Kapitalismus. Der dringend erforderliche Wandel muss basieren auf internationaler Solidarität.
 
Die Covid-19 Pandemie trifft vor allem die Länder jetzt am Härtesten, deren herrschende Klasse sich dem internationalen Konkurrenzdruck des globalen Kapitalismus verschrieben haben und selbst mit allen Mitteln versuchen, Teil davon zu werden. Covid-19 trifft auch solche Länder besonders hart, deren Regierungen eher mit faschistischen Regimen vergleichbar sind. Es hat bisher alleine dadurch besonders in den armen Bevölkerungsteilen, hunderttausende Todesopfer gegeben, und in einer Logik in der Gesundheitssysteme auf Kosten der Gesundheit der Menschen wirtschaftlich optimiert werden, fossile Energieträger auf Kosten der Umwelt & Menschen abgebaut und verbrannt werden, Konkurrenzdenken anstatt Kollektivem Denkens propagiert wird, Leistungsdruck, Erwartungshaltungen, binäre Rollenbilder und vorgegebene sexuelle Orientierungen zur gesellschaftlichen Norm gehören und auch mentale Gesundheit stigmatisiert und als nicht so wichtig angesehen wird, sind zukünftige Katastrophen und Krisen, welche definitiv kommen werden, nicht zu bewältigen.
 
Genau in dieser Zeit, wo Menschen in der gesamten Welt darüber hinaus bereits an den Folgen der Klimakrise leiden und diese sich mittlerweile auch hier stärker bemerkbar macht, wird offen in den Parlamenten über Abfuckprämien diskutiert, das Kohlekraftwerk Datteln4 ans Netz angeschlossen, Fluggesellschaften gerettet, das Gesundheitswesen weiter privatisiert, weiterhin fossile Energien subventioniert und am Leben gehalten. Arbeiter*Innen, Natur und andere Tiere werden in Tierfabriken ausgebeutet und die Globalisierung der Weltausbeutung, genannt Weltwirtschaft, wird vorangetrieben, ganz getreu dem Motto „Zuerst die Wirtschaft & der Profit, dann alles andere“. Dies alles ist zugleich jedoch keine Überraschung, denn es folgt der kapitalistischen Logik und dem Willen der herrschenden Klasse. Es verwundert auch nicht, dass jetzt vor allem viele Menschen der sogenannte untere Klasse vor existenziellen Notlagen stehen, sich aber primär vor allem von den Parlamenten und den dazugehörigen Lobbygruppen um die Interessen der Großkapitalist*innen gekümmert wird, während für Pflegekräfte und Co. von Balkonen geklatscht wird.
 
Auch in Würzburg wird der selben Logik gefolgt. Anstatt den Wandel wirklich voranzubringen, Kultur, Kollektivität, Basisdemokratie & Ökologie zu stärken, werden lieber durch Absprachen hochbezahlte Stellen im Rathaus geschaffen. 
 
Dies verwundert jedoch ebenso wenig, da eine parlamentarische Parteienpolitik & die dazugehörigen Parlamente eben auch auf dieser Klassenherrschaft beruhen und somit das bestehende System nicht ansatzweise mit dem Willen zur echten Veränderung angehen, sondern eher den Status Quo festigen. Hierbei geht es um schlicht um Macht und Fraktionskämpfe.
 
Es ist jedoch weit entfernt von der Ermutigung Einzelner, von Basisdemokratie und teilhabender Mitbestimmung, sowie der Ermächtigung der Bevölkerung & dem Abbau von Hierarchien. Dies ist aber essentiell als Basis für einen gesellschaftlichen und systemischen Wandel, den wir uns ersehnen, den wir aber auch dringend benötigen.
 
Wir brauchen freie Räume und soziale Kulturzentren, wo Menschen wieder zusammenfinden und kollektiv lernen, sich weiterentwickeln und neue Systeme ausprobieren können, sowie sich gegen kapitalistische Markt- & Profitlogik wehren können. Es bedarf vor allem auch einen neuen Mut, das etwas Neues mit dem Anspruch der Ökologie, der Hierarchiefreiheit und des guten Lebens für alle unabhängig Ihrer sozialen Klasse, Hautfarbe, ihres Geschlechts, der geographischen Herkunft, sexuellen Orientierung o.ä. machbar ist.
 
Ziviler Ungehorsam ist unsere moralische Pflicht, um gegen diese Ungerechtigkeiten vorzugehen und wir müssen geschlossen  und solidarisch der kapitalistischen Klasse zeigen, dass wir ihr „business as usual“ mit all den Konsequenzen auf dem Rücken anderer nicht einfach so hinnehmen.
 
Wir lassen uns auch durch Kriminalisierung von staatlichen und politisch rechts motivierten Institutionen wie den Verfassungsschutz nicht zum Schweigen bringen oder spalten. Wir kämpfen für individuelle Freiheit, Kollektive Solidarität, Selbstbestimmung und Teilhabe, sowie gegen Ausbeutung, Gewalt und Diskriminierung.
 
We are unstoppable, another world is possible. Wir sind Ende Gelände und wir sind nicht allein.
 
Deshalb gilt für uns weiterhin: Auf geht‘s, ab geht‘s, Ende Gelände! 

Jenseits von Corona

Jenseits von Corona      (15. April 2020)

Die ignorierten, ausgeblendeten und vernachlässigten Themen jenseits von Corona

Corona – über kaum etwas anderes wird momentan gesprochen. Ohne Zweifel ist das richtig und wichtig, aber das gilt ebenso für andere Themen, die in der aktuellen Situation kaum noch Beachtung finden, obwohl diese Themen bzw. die dahinterstehenden Fakten mehr Menschenleben bedrohen und fordern, als Corona es tut. Diese Themen bergen Bedrohungen und sie fordern Opfer, aktuell und zukünftig. Die Liste dieser Themen ist lang, sie sind nicht neu und sie hängen alle zusammen – was das wirklich Erschreckende und massiv Gefährliche daran ist.
Die Klimakrise schreitet voran, in riesigen Schritten, weltweit. Während wir in Deutschland zumindest hin und wieder daran erinnert werden, weil wir im April bereits Waldbrände haben, Landwirte Alarm schlagen, dass die Böden schon jetzt zu trocken sind und wir vor einem weiteren Dürresommer stehen, finden Katastrophen des Klimazusammenbruchs in anderen Ländern kaum mehr Beachtung. Wir im globalen Norden sind es aber, die diese Katastrophen verursachen und wir sind es, die die Menschen damit alleine lassen, einzig darauf bedacht, die Folgen für uns und unsere Wirtschaft abzumildern.
Ostafrika, Indien und Pakistan erleben die schlimmste Invasion von Wanderheuschrecken seit mehr als 70 Jahren. In Kenia wurde ein Schwarm gesichtet, der 80 km lang und 40 km breit ist und innerhalb 1 Tages so viele Nährstoffe vernichtet wie 80 Millionen Menschen. Diese Zahlen sind nicht mehr zu begreifen und vor allem sind die Auswirkungen nicht mehr in den Griff zu bekommen. In Äthiopien musste ein Flugzeug notlanden, weil es in einen Schwarm geraten war. Eritrea, Jemen, Sudan, Uganda, Ruanda, Tansania – diese Länder können nichts mehr entgegensetzen. In den Grundfesten erschüttert durch Dürren, Überflutungen und Bürgerkriege sind dort bereits mehr als 11 Millionen Menschen auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen. Diese Zahlen werden explodieren. Normalerweise Einzelgänger bilden sich nun riesige Schwärme von Heuschrecken, die am Tag bis zu 150 km zurücklegen und dabei nichts als Verwüstung hinterlassen. Begünstigt durch Regenfälle wachsen die Populationen, die Schwärme können nicht bekämpft werden. Es fehlen Flugzeuge, dort, wo einige vorhanden sind, dürfen sie aufgrund von Bürgerkriegen nicht fliegen, die Tiere sind teilweise bereits immun gegen die aggressiven Gifte, die bereits zu lange verwendet werden, um auf immer weniger Fläche, unter immer schlechteren Bedingungen immer mehr Menschen zu ernähren. Unter der Erde abgelegte Eier sorgen für ununterbrochenen Nachwuchs. Wissenschaftler sehen die zunehmenden Zyklone und das sogenannte Dipol-Phänomen (für welches der Klimawandel ursächlich ist) als Auslöser und Förderer dieser Katastrophe. Der Indische Ozean ist im Westen um einige Grad wärmer als im Osten. Das führte zu Dürren und Bränden in Australien, die Küste Ostafrikas wurde von heftigen Regenfällen heimgesucht, was ideale Bedingungen für die Vermehrung der Heuschrecken bot.
Wir müssen uns vor Augen führen, dass wir auch jetzt im „Corona-Lockdown“ durch unser Handeln, welches momentan nur kurzfristig etwas eingeschränkt, nicht aber völlig verändert ist, weiterhin Fluchtursachen wie diese in unfassbarem Ausmaß schaffen. Und wir tun das aufgrund unseres irrationalen, gefährlichen und falschen Festhaltens an einem Wirtschaftssystem, welches wachsen muss um seiner selbst willen. Unsere Versuche, den Kapitalismus in ein Grünes Gewand zu zwängen, sind absurd, gefährlich und lächerlich. Sie zeugen von Dummheit, Ignoranz, Fahrlässigkeit, der Fähigkeit einiger sich selbst zu belügen und des Strebens weniger nach immer mehr: mehr Gewinnen, mehr Macht, mehr Einfluss. Wer nicht versteht oder nicht verstehen will, dass „mehr“ nur funktioniert, wenn wir weiterhin auch „mehr“ verbrauchen, produzieren, der Erde entreißen und damit mehr Schaden anrichten, verschließt die Augen vor der Realität. Wer es versteht und trotzdem das Märchen vom „Grünen Kapitalismus“ verbreitet und damit gegen den Klimazusammenbruch ankämpfen will, riskiert bewusst und gewollt die drohende Katastrophe mit all ihren Folgen.
Wir müssen weg vom Kapitalismus, der verantwortlich ist für viele der großen Probleme und der sie stetig verstärkt. Der Kapitalismus ist Ursache und Multiplikator der Katastrophen, Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten auf unserem Planeten. Wir müssen es denken und sagen dürfen und wir müssen endlich anfangen, unser Wirtschaftssystem radikal zu verändern. Der Kapitalismus tötet und zerstört, er beutet aus und er spielt Menschen gegeneinander aus.
Die Folgen davon sehen wir nicht nur in der Klimakatastrophe und allem, was sie mit sich bringt. Wir sehen sie momentan direkt und dramatisch an den Außengrenzen der Europäischen Union. In Lagern, auf Fluchtrouten, auf dem Meer – wir lassen Menschen sterben. Wir wissen es, wir lassen es zu und spätestens dann, wenn Boote zerstört, gerammt und beschossen werden, greifen wir aktiv ein und töten. Die Regierungen der Europäischen Union werden zu Mördern und das alles in erster Linie weil „die Wirtschaft“ geschützt werden muss – vor vermeintlich zu vielen Menschen, die keine Gewinne bringen, aber deren Versorgung und Unterbringung etwas kostet. Der Kapitalismus schützt sich, indem er Grenzen schließt, Mauern baut, Stacheldraht auslegt und Seenotretter*innen Hafeneinfahrten verweigert. Gepaart wird der Kapitalismus in dramatischer Weise mit Rassismus. Nicht anders als mit Rassismus sind Ausgaben z.B. Deutschlands in Millionenhöhe zu erklären, um Urlauber*innen nach Hause zu fliegen, Erntehelfer*innen einzufliegen, damit der Spargel gestochen wird, während ein paar Tausend Menschen in Lagern auf Corona und den Tod warten, den andere – auch an Ostern – auf dem offenen Meer bereits gefunden haben.
Begriffe, um das Unglaubliche, eigentlich Undenk- und Unsagbare zu beschreiben, fehlen mir schon lange. Ebenso kann ich nicht begreifen, dass so vielen scheinbar der Zynismus und die Heuchelei nicht einmal mehr auffallen, die doch so offensichtlich sind: nach Wochen des zähen Ringens und Monaten des Nichtstuns holen wir 50 Kinder aus Moria, wir stehen auf Balkonen und applaudieren Verkäufer*innen und Menschen in Pflegeberufen, denen seit Jahren keine gerechten Löhne gezahlt werden und deren Arbeitsbedingungen kaum jemanden interessiert haben, wir spannen Milliarden-Rettungsschirme für Konzerne auf, die doch schon jährlich Milliarden-Gewinne erzielen und wollen Schulen wieder öffnen, damit die Eltern wieder ihren Teil zur Sicherung der Wirtschaft beitragen können.
Das ist Kapitalismus und Rassismus in Reinform. Sie verstecken sich nicht einmal mehr, sie treten offen auf und werden vollkommen unreflektiert willkommen geheißen.
Es gibt Menschen, die das bemerken, die widersprechen und aufbegehren. Diese Menschen gab es schon immer, sie wurden schon immer als Gefahr betrachtet und entsprechend behandelt: Linksextremisten, Linksradikale – so werden sie bezeichnet, um Legitimation zu schaffen für drastisches Vorgehen des Staates und seiner legitimierten Organe. Die Staatsgewalt greift ein, erschwert, unterbindet, bestraft. Der Staat schützt dabei aber nicht sich selbst, er schützt ein Wirtschaftssystem vor denen, die es kritisieren und in etwas anderes transformieren wollen. Unsere Staatsform ist die Demokratie, mit gewählten Vertreter*innen, die die Interessen der Bevölkerung wahren und bestmöglich umsetzen sollen. Die Demokratie ist es nicht, die die Menschen kritisieren und abschaffen wollen. Es besteht also eigentlich kein Grund für den Staat so heftig zu reagieren und Kritik zu unterbinden. Was abgeschafft werden muss, ist ein Wirtschaftssystem, ist der Kapitalismus. Der Staat schützt somit nicht seine Bürger, er schützt den Kapitalismus mit seinen Konzernen und diejenigen, die davon auf Kosten aller anderen und des Planeten profitieren.
Abgesehen von den Gefahren durch den Virus selbst, scheint Corona wie gemacht, um die Abwehrmechanismen des bestehenden Systems noch weiter zu verstärken, die Repressionsmöglichkeiten drastisch zu erweitern und die Staatsgewalt mit vor Kurzem noch undenkbaren Möglichkeiten auszustatten, das (Wirtschafts-) System zu schützen, Kritik zu unterbinden und Kritiker*innen zu überwachen. Während es nachvollziehbar ist, dass große Demonstrationen zurzeit nicht möglich sind, ist aber völlig unverständlich und extrem gefährlich, dass politische Meinungsäußerungen an sich nicht mehr in der Öffentlichkeit geduldet sind. Selbst wenn sich Personen an Abstandsregeln halten, Mundschutz tragen und niemanden gefährden, greift die Polizei teilweise massiv ein. Es ist geradezu absurd, dass es die Polizei selbst ist, die hierbei oft ohne Mundschutz und Abstand in größeren Gruppen agiert, um vermeintlich den Infektionsschutz zu gewährleisten.
Diese Maßnahmen und das Handeln an sich sind beängstigend und schockierend, ebenso aber das laute Schweigen der Mehrheit, welches erst langsam bricht. Wie bereitwillig Menschen in den letzten Wochen die massiven Einschränkungen ihrer Grundrechte nicht nur hingenommen, sondern auch gefordert haben, ist dramatisch. Die Folgen dessen sind es ebenso und sie werden uns „nach Corona“ noch begleiten. Somit werden all diejenigen, die schon lange gegen die zahlreichen großen Probleme, wie z.B. Klimawandel, Rassismus, Rechten Terror, Kapitalismus, Ungleichheit in vielen Bereichen und Repressionen aktiv sind, „nach Corona“ im schlimmsten Fall mit einem weiteren Problem (vermutlich) allein gelassen: Einschränkungen im Demonstrationsrecht und im Bereich der politischen Meinungsäußerung, einhergehend mit nochmals verstärkten Überwachungsmöglichkeiten.
Was braucht es also? Es braucht Vieles! Zunächst Durchhaltevermögen und einen lauten, großflächigen Aufschrei der Bevölkerung angesichts all dessen, was momentan passiert und nicht passiert. Die entstandene und gelebte Solidarität im Kleinen muss anhalten und sich ausdehnen auf die großen Aspekte und über Ländergrenzen und Staatszugehörigkeiten hinaus. Solidarität und entsprechendes Handeln brauchen und verdienen gleichermaßen Menschen auf der Flucht, Menschen, die in ihren Heimatländern unter den furchtbaren Bedingungen ausharren, die wir im globalen Norden für sie schaffen. Solidarität müssen wir Pflegepersonal, Ärzt*innen, Verkäufer*innen, Lehrer*innen…auch nach Corona zeigen, wenn sie wieder für gerechte Löhne und gute Arbeitsbedingungen streiken. Wir müssen solidarisch an der Seite von Menschen weltweit stehen, deren Zuhause bedroht wird, weil Europa Waffen liefert, Kohlekonzerne weiterhin Dörfer, Wälder und Lebensräume für Profite zerstören. Solidarität und Unterstützung muss ganz besonders denjenigen zu Teil werden, die sich überall auf der Welt laut, öffentlich und trotz diverser Gefahren politisch äußern und für Veränderungen kämpfen. Denn Veränderungen sind es, die wir vor allem brauchen. Es sind radikale und große Veränderungen nötig, die sich nicht von alleine ergeben werden, die uns nicht einfach so geschenkt werden. Sie müssen gefordert, erstritten, erkämpft werden und die Zeit dafür beginnt spätestens jetzt.

Polizeigewalt kann jede*n treffen

Polizeigewalt kann jede*n treffen   (16. März 2020)

Heute ist der Internationale Tag gegen Polizeigewalt und wir stellen fest: dieser Tag gewinnt in der öffentlichen Wahrnehmung mehr und mehr an Bedeutung. Die Zahl der Demonstrationen, Mahnwachen und Berichterstattungen zum Thema wächst. Woran liegt das?
Zunächst einmal ist es falsch zu behaupten, Polizeigewalt hat es früher nicht gegeben. Es hat sie immer und überall gegeben. Polizist*innen sind durch Staat und Gesetze legitimiert und mit Instrumenten ausgestattet, Macht auszuüben und zum Schutz der bestehenden Ordnung dafür auch Gewalt anzuwenden. Betroffen waren und sind oft Demonstrationsteilnehmer*innen, Protestierende und Fußballfans, Menschen sogenannter Randgruppen und Minderheiten. Was sich in den letzten Jahren verändert hat, ist die Sichtbarkeit von Polizeigewalt. In Zeiten von Klimakatastrophe, Migrationsbewegungen, explodierenden Mieten, knappem Wohnraum, Kriegen und bewaffneten Auseinandersetzungen rund um den Globus, wachsen die Zahlen der Demonstrationen ebenso wie die der Teilnehmer*innen. Protestformen jenseits einfacher Demonstrationszüge etablieren sich, es kommt zu Besetzungen, Schienen- und Straßenblockaden, Konzerne werden direktes Ziel von Protestierenden, an den Außengrenzen werden wir in Form von Schutz- und Hilfesuchenden mit den Auswirkungen unseres Lebensstils und unserer Politik direkt konfrontiert.
Die Themen, die sich nun in Form von Protest und Widerstand massiv in den Vordergrund drängen, sind genau die, die schon immer heftige Reaktionen seitens des Systems und somit auch seitens der Polizei ausgelöst haben: Kritik an der bestehenden Wirtschaftsordnung des Kapitalismus, Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit, Widerstand gegen Rechts. Es sind jetzt aber nicht mehr sogenannte Minderheiten und Randgruppen, die sich hier Gehör verschaffen und somit leicht als „Linksradikale“, „Linksextreme Gewalttäter“ und „Chaoten“ kriminalisiert und verunglimpft werden konnten. Es sind Schüler*innen, Student*innen, Arbeiter*innen, Anwält*innen, Ärzt*innen, Eltern – kurz: immer größere Teile der Gesellschaft stehen auf und fordern drastische Veränderungen. Es liegt in unserem System selbst begründet, wie seine Reaktionen darauf aussehen. Die bestehende Ordnung muss aufrechterhalten werden und wenn sich das System, dessen Teil die Polizei ist, mehr und mehr Menschen gegenübersieht, wird die Gewalt zunehmend zum Mittel der Abschreckung und Eindämmung.
Eine Studie aus dem Jahr 2019 zeigt erschreckende Zahlen, die Dunkelziffer dürfte aber noch weitaus dramatischer sein. 3375 Fälle von Polizeigewalt wurden untersucht. Stöße, Schlagstockeinsatz, Schmerzgriffe und Pfefferspray sind die häufigsten Formen der Gewalt, die bei 19 % der Betroffenen zu schweren Verletzungen wie Knochenbrüchen, Kopfverletzungen und inneren Verletzungen führten. Weitgehend noch immer völlig unbeachtet sind die psychischen Folgen für die Betroffenen, die langwierig und schwerwiegend sein können.
Ganz besonders im Fokus stehen dabei die Aktivist*innen der Klimagerechtigkeitsbewegung, die aufgrund ihrer großen Zahl und der vielen Aktionen häufig in Kontakt mit der Polizei kommen. Die brutalen Bilder aus Wien, wo ein Mensch mit dem Kopf unter ein losfahrendes Polizeifahrzeug gelegt wurde, sind da nur ein Beispiel von vielen. Es arbeiten inzwischen ganze Ermittlungsausschüsse mit spezialisierten Anwält*innen quasi dauerhaft im Hintergrund, um Aktivist*innen zu schützen, zu beraten und in Prozessen zur Seite zu stehen.
Dadurch gelingt es langsam, dass immer mehr Betroffene Polizeigewalt zur Anzeige bringen, wenn gleich u.a. die Angst vor weiteren Repressionen viele diesen Schritt noch immer nicht gehen lässt. Zudem sind die Erfolgsaussichten gering, auch das belegt die Studie. Täter sind oft nicht identifizierbar, Ermittlungen in den eigenen Reihen verlaufen im Sand, die Einstellungsquote liegt bei 93 %.
Auch bei Einsätzen abseits von Demonstrationen kommt es immer wieder zu Gewalt und sogar Todesfällen. Bei einem Zwischenfall in einer Wohnung in Berlin fallen im Januar tödliche Schüsse. Dabei handelt es sich nicht um einen Einzelfall. Im gezeigten Beispiel war die betroffene Person psychisch krank. Die Polizei ist nicht vorbereitet auf den Umgang mit solchen Menschen, so dass Situationen schnell und dramatisch eskalieren. Polizeieinsätze in Wohnungen sind aber sicher in jedem Fall mit erhöhtem Gefahrenpotential verbunden: enge und oft sowieso schon emotional aufgeladene Situationen sind nicht der Ort für bewaffnete Polizeieinheiten.
Unvergessen ebenfalls die mutmaßliche Ermordung von Oury Jalloh, der 2005 in Polizeigewahrsam starb. Eine Aufarbeitung und genaue Aufklärung der Umstände lässt bis heute trotz mehrerer Ermittlungsverfahren auf sich warten.
Die Informationen zu Gewaltexzessen von Polizist*innen aus allen Teilen der Welt reißen momentan nicht mehr ab. Dabei spielt es keine Rolle, ob wir uns innerhalb von Europa umschauen oder den Blick in andere Teile der Welt richten. Die Bilder gleichen sich, die Hintergründe tun es ebenfalls. In Chile kommt der Widerstand gegen soziale Ungleichheit, Korruption und für eine Verfassungsreform, sowie eine tiefgreifende Reform des Wirtschaftssystems nicht zum Erliegen. Während es 2011 – 2012 vornehmlich Schüler*innen und Student*innen waren, wird dieser Protest inzwischen von der breiten Bevölkerung getragen. Der Staat reagiert mit brutaler Gewalt, die auch Journalist*innen und Helfer*innen trifft.
In Frankreich brennen seit Monaten Straßenbarrikaden und die Zahl derer, die gegen Macron und seine Reformen aktiv Widerstand leisten, steigt. Auch hier gelingt es trotz massiver Polizeigewalt nicht, die Proteste einzuschränken.
Wir können hier nur einzelne Beispiele aufgreifen, die Liste der Vorfälle scheint endlos. Sich damit auseinanderzusetzen kann einschüchternd sein, sollte aber trotzdem ebenso etwas anderes deutlich machen, was uns doch Mut geben sollte: Polizeigewalt gelingt es nicht mehr, die vielfältigen Stimmen des Widerstands verstummen zu lassen. Im Gegenteil, jedes neue Video, jeder neue Bericht scheint weitere Proteste auszulösen, mehr Menschen auf die Straßen zu holen, die Themen nur umso präsenter zu machen und den Druck auf die Verantwortlichen zu erhöhen.
Was können wir tun, wenn wir direkt oder indirekt von Polizeigewalt betroffen sind?
Es ist wichtig, nicht wegzuschauen und nicht zu schweigen. Dokumentiert die Vorfälle, lasst Betroffene nicht allein, zeigt die Vorfälle an, macht sie öffentlich. Die Antwort, die in all den aktuellen Krisen immer eine ganz wichtige ist, ist Solidarität! Helft Betroffenen während, aber auch nach der Gewalterfahrung, haltet zusammen und bildet eine gemeinsame, laute Stimme. Wir stellen uns alle solidarisch an die Seite derer, die betroffen sind. Lasst uns den Opfern eine Stimme geben, denn Polizeigewalt kann jede*n treffen.