Jenseits von Corona

Jenseits von Corona      (15. April 2020)

Die ignorierten, ausgeblendeten und vernachlässigten Themen jenseits von Corona

Corona – über kaum etwas anderes wird momentan gesprochen. Ohne Zweifel ist das richtig und wichtig, aber das gilt ebenso für andere Themen, die in der aktuellen Situation kaum noch Beachtung finden, obwohl diese Themen bzw. die dahinterstehenden Fakten mehr Menschenleben bedrohen und fordern, als Corona es tut. Diese Themen bergen Bedrohungen und sie fordern Opfer, aktuell und zukünftig. Die Liste dieser Themen ist lang, sie sind nicht neu und sie hängen alle zusammen – was das wirklich Erschreckende und massiv Gefährliche daran ist.
Die Klimakrise schreitet voran, in riesigen Schritten, weltweit. Während wir in Deutschland zumindest hin und wieder daran erinnert werden, weil wir im April bereits Waldbrände haben, Landwirte Alarm schlagen, dass die Böden schon jetzt zu trocken sind und wir vor einem weiteren Dürresommer stehen, finden Katastrophen des Klimazusammenbruchs in anderen Ländern kaum mehr Beachtung. Wir im globalen Norden sind es aber, die diese Katastrophen verursachen und wir sind es, die die Menschen damit alleine lassen, einzig darauf bedacht, die Folgen für uns und unsere Wirtschaft abzumildern.
Ostafrika, Indien und Pakistan erleben die schlimmste Invasion von Wanderheuschrecken seit mehr als 70 Jahren. In Kenia wurde ein Schwarm gesichtet, der 80 km lang und 40 km breit ist und innerhalb 1 Tages so viele Nährstoffe vernichtet wie 80 Millionen Menschen. Diese Zahlen sind nicht mehr zu begreifen und vor allem sind die Auswirkungen nicht mehr in den Griff zu bekommen. In Äthiopien musste ein Flugzeug notlanden, weil es in einen Schwarm geraten war. Eritrea, Jemen, Sudan, Uganda, Ruanda, Tansania – diese Länder können nichts mehr entgegensetzen. In den Grundfesten erschüttert durch Dürren, Überflutungen und Bürgerkriege sind dort bereits mehr als 11 Millionen Menschen auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen. Diese Zahlen werden explodieren. Normalerweise Einzelgänger bilden sich nun riesige Schwärme von Heuschrecken, die am Tag bis zu 150 km zurücklegen und dabei nichts als Verwüstung hinterlassen. Begünstigt durch Regenfälle wachsen die Populationen, die Schwärme können nicht bekämpft werden. Es fehlen Flugzeuge, dort, wo einige vorhanden sind, dürfen sie aufgrund von Bürgerkriegen nicht fliegen, die Tiere sind teilweise bereits immun gegen die aggressiven Gifte, die bereits zu lange verwendet werden, um auf immer weniger Fläche, unter immer schlechteren Bedingungen immer mehr Menschen zu ernähren. Unter der Erde abgelegte Eier sorgen für ununterbrochenen Nachwuchs. Wissenschaftler sehen die zunehmenden Zyklone und das sogenannte Dipol-Phänomen (für welches der Klimawandel ursächlich ist) als Auslöser und Förderer dieser Katastrophe. Der Indische Ozean ist im Westen um einige Grad wärmer als im Osten. Das führte zu Dürren und Bränden in Australien, die Küste Ostafrikas wurde von heftigen Regenfällen heimgesucht, was ideale Bedingungen für die Vermehrung der Heuschrecken bot.
Wir müssen uns vor Augen führen, dass wir auch jetzt im „Corona-Lockdown“ durch unser Handeln, welches momentan nur kurzfristig etwas eingeschränkt, nicht aber völlig verändert ist, weiterhin Fluchtursachen wie diese in unfassbarem Ausmaß schaffen. Und wir tun das aufgrund unseres irrationalen, gefährlichen und falschen Festhaltens an einem Wirtschaftssystem, welches wachsen muss um seiner selbst willen. Unsere Versuche, den Kapitalismus in ein Grünes Gewand zu zwängen, sind absurd, gefährlich und lächerlich. Sie zeugen von Dummheit, Ignoranz, Fahrlässigkeit, der Fähigkeit einiger sich selbst zu belügen und des Strebens weniger nach immer mehr: mehr Gewinnen, mehr Macht, mehr Einfluss. Wer nicht versteht oder nicht verstehen will, dass „mehr“ nur funktioniert, wenn wir weiterhin auch „mehr“ verbrauchen, produzieren, der Erde entreißen und damit mehr Schaden anrichten, verschließt die Augen vor der Realität. Wer es versteht und trotzdem das Märchen vom „Grünen Kapitalismus“ verbreitet und damit gegen den Klimazusammenbruch ankämpfen will, riskiert bewusst und gewollt die drohende Katastrophe mit all ihren Folgen.
Wir müssen weg vom Kapitalismus, der verantwortlich ist für viele der großen Probleme und der sie stetig verstärkt. Der Kapitalismus ist Ursache und Multiplikator der Katastrophen, Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten auf unserem Planeten. Wir müssen es denken und sagen dürfen und wir müssen endlich anfangen, unser Wirtschaftssystem radikal zu verändern. Der Kapitalismus tötet und zerstört, er beutet aus und er spielt Menschen gegeneinander aus.
Die Folgen davon sehen wir nicht nur in der Klimakatastrophe und allem, was sie mit sich bringt. Wir sehen sie momentan direkt und dramatisch an den Außengrenzen der Europäischen Union. In Lagern, auf Fluchtrouten, auf dem Meer – wir lassen Menschen sterben. Wir wissen es, wir lassen es zu und spätestens dann, wenn Boote zerstört, gerammt und beschossen werden, greifen wir aktiv ein und töten. Die Regierungen der Europäischen Union werden zu Mördern und das alles in erster Linie weil „die Wirtschaft“ geschützt werden muss – vor vermeintlich zu vielen Menschen, die keine Gewinne bringen, aber deren Versorgung und Unterbringung etwas kostet. Der Kapitalismus schützt sich, indem er Grenzen schließt, Mauern baut, Stacheldraht auslegt und Seenotretter*innen Hafeneinfahrten verweigert. Gepaart wird der Kapitalismus in dramatischer Weise mit Rassismus. Nicht anders als mit Rassismus sind Ausgaben z.B. Deutschlands in Millionenhöhe zu erklären, um Urlauber*innen nach Hause zu fliegen, Erntehelfer*innen einzufliegen, damit der Spargel gestochen wird, während ein paar Tausend Menschen in Lagern auf Corona und den Tod warten, den andere – auch an Ostern – auf dem offenen Meer bereits gefunden haben.
Begriffe, um das Unglaubliche, eigentlich Undenk- und Unsagbare zu beschreiben, fehlen mir schon lange. Ebenso kann ich nicht begreifen, dass so vielen scheinbar der Zynismus und die Heuchelei nicht einmal mehr auffallen, die doch so offensichtlich sind: nach Wochen des zähen Ringens und Monaten des Nichtstuns holen wir 50 Kinder aus Moria, wir stehen auf Balkonen und applaudieren Verkäufer*innen und Menschen in Pflegeberufen, denen seit Jahren keine gerechten Löhne gezahlt werden und deren Arbeitsbedingungen kaum jemanden interessiert haben, wir spannen Milliarden-Rettungsschirme für Konzerne auf, die doch schon jährlich Milliarden-Gewinne erzielen und wollen Schulen wieder öffnen, damit die Eltern wieder ihren Teil zur Sicherung der Wirtschaft beitragen können.
Das ist Kapitalismus und Rassismus in Reinform. Sie verstecken sich nicht einmal mehr, sie treten offen auf und werden vollkommen unreflektiert willkommen geheißen.
Es gibt Menschen, die das bemerken, die widersprechen und aufbegehren. Diese Menschen gab es schon immer, sie wurden schon immer als Gefahr betrachtet und entsprechend behandelt: Linksextremisten, Linksradikale – so werden sie bezeichnet, um Legitimation zu schaffen für drastisches Vorgehen des Staates und seiner legitimierten Organe. Die Staatsgewalt greift ein, erschwert, unterbindet, bestraft. Der Staat schützt dabei aber nicht sich selbst, er schützt ein Wirtschaftssystem vor denen, die es kritisieren und in etwas anderes transformieren wollen. Unsere Staatsform ist die Demokratie, mit gewählten Vertreter*innen, die die Interessen der Bevölkerung wahren und bestmöglich umsetzen sollen. Die Demokratie ist es nicht, die die Menschen kritisieren und abschaffen wollen. Es besteht also eigentlich kein Grund für den Staat so heftig zu reagieren und Kritik zu unterbinden. Was abgeschafft werden muss, ist ein Wirtschaftssystem, ist der Kapitalismus. Der Staat schützt somit nicht seine Bürger, er schützt den Kapitalismus mit seinen Konzernen und diejenigen, die davon auf Kosten aller anderen und des Planeten profitieren.
Abgesehen von den Gefahren durch den Virus selbst, scheint Corona wie gemacht, um die Abwehrmechanismen des bestehenden Systems noch weiter zu verstärken, die Repressionsmöglichkeiten drastisch zu erweitern und die Staatsgewalt mit vor Kurzem noch undenkbaren Möglichkeiten auszustatten, das (Wirtschafts-) System zu schützen, Kritik zu unterbinden und Kritiker*innen zu überwachen. Während es nachvollziehbar ist, dass große Demonstrationen zurzeit nicht möglich sind, ist aber völlig unverständlich und extrem gefährlich, dass politische Meinungsäußerungen an sich nicht mehr in der Öffentlichkeit geduldet sind. Selbst wenn sich Personen an Abstandsregeln halten, Mundschutz tragen und niemanden gefährden, greift die Polizei teilweise massiv ein. Es ist geradezu absurd, dass es die Polizei selbst ist, die hierbei oft ohne Mundschutz und Abstand in größeren Gruppen agiert, um vermeintlich den Infektionsschutz zu gewährleisten.
Diese Maßnahmen und das Handeln an sich sind beängstigend und schockierend, ebenso aber das laute Schweigen der Mehrheit, welches erst langsam bricht. Wie bereitwillig Menschen in den letzten Wochen die massiven Einschränkungen ihrer Grundrechte nicht nur hingenommen, sondern auch gefordert haben, ist dramatisch. Die Folgen dessen sind es ebenso und sie werden uns „nach Corona“ noch begleiten. Somit werden all diejenigen, die schon lange gegen die zahlreichen großen Probleme, wie z.B. Klimawandel, Rassismus, Rechten Terror, Kapitalismus, Ungleichheit in vielen Bereichen und Repressionen aktiv sind, „nach Corona“ im schlimmsten Fall mit einem weiteren Problem (vermutlich) allein gelassen: Einschränkungen im Demonstrationsrecht und im Bereich der politischen Meinungsäußerung, einhergehend mit nochmals verstärkten Überwachungsmöglichkeiten.
Was braucht es also? Es braucht Vieles! Zunächst Durchhaltevermögen und einen lauten, großflächigen Aufschrei der Bevölkerung angesichts all dessen, was momentan passiert und nicht passiert. Die entstandene und gelebte Solidarität im Kleinen muss anhalten und sich ausdehnen auf die großen Aspekte und über Ländergrenzen und Staatszugehörigkeiten hinaus. Solidarität und entsprechendes Handeln brauchen und verdienen gleichermaßen Menschen auf der Flucht, Menschen, die in ihren Heimatländern unter den furchtbaren Bedingungen ausharren, die wir im globalen Norden für sie schaffen. Solidarität müssen wir Pflegepersonal, Ärzt*innen, Verkäufer*innen, Lehrer*innen…auch nach Corona zeigen, wenn sie wieder für gerechte Löhne und gute Arbeitsbedingungen streiken. Wir müssen solidarisch an der Seite von Menschen weltweit stehen, deren Zuhause bedroht wird, weil Europa Waffen liefert, Kohlekonzerne weiterhin Dörfer, Wälder und Lebensräume für Profite zerstören. Solidarität und Unterstützung muss ganz besonders denjenigen zu Teil werden, die sich überall auf der Welt laut, öffentlich und trotz diverser Gefahren politisch äußern und für Veränderungen kämpfen. Denn Veränderungen sind es, die wir vor allem brauchen. Es sind radikale und große Veränderungen nötig, die sich nicht von alleine ergeben werden, die uns nicht einfach so geschenkt werden. Sie müssen gefordert, erstritten, erkämpft werden und die Zeit dafür beginnt spätestens jetzt.