Polizeigewalt kann jede*n treffen

Polizeigewalt kann jede*n treffen   (16. März 2020)

Heute ist der Internationale Tag gegen Polizeigewalt und wir stellen fest: dieser Tag gewinnt in der öffentlichen Wahrnehmung mehr und mehr an Bedeutung. Die Zahl der Demonstrationen, Mahnwachen und Berichterstattungen zum Thema wächst. Woran liegt das?
Zunächst einmal ist es falsch zu behaupten, Polizeigewalt hat es früher nicht gegeben. Es hat sie immer und überall gegeben. Polizist*innen sind durch Staat und Gesetze legitimiert und mit Instrumenten ausgestattet, Macht auszuüben und zum Schutz der bestehenden Ordnung dafür auch Gewalt anzuwenden. Betroffen waren und sind oft Demonstrationsteilnehmer*innen, Protestierende und Fußballfans, Menschen sogenannter Randgruppen und Minderheiten. Was sich in den letzten Jahren verändert hat, ist die Sichtbarkeit von Polizeigewalt. In Zeiten von Klimakatastrophe, Migrationsbewegungen, explodierenden Mieten, knappem Wohnraum, Kriegen und bewaffneten Auseinandersetzungen rund um den Globus, wachsen die Zahlen der Demonstrationen ebenso wie die der Teilnehmer*innen. Protestformen jenseits einfacher Demonstrationszüge etablieren sich, es kommt zu Besetzungen, Schienen- und Straßenblockaden, Konzerne werden direktes Ziel von Protestierenden, an den Außengrenzen werden wir in Form von Schutz- und Hilfesuchenden mit den Auswirkungen unseres Lebensstils und unserer Politik direkt konfrontiert.
Die Themen, die sich nun in Form von Protest und Widerstand massiv in den Vordergrund drängen, sind genau die, die schon immer heftige Reaktionen seitens des Systems und somit auch seitens der Polizei ausgelöst haben: Kritik an der bestehenden Wirtschaftsordnung des Kapitalismus, Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit, Widerstand gegen Rechts. Es sind jetzt aber nicht mehr sogenannte Minderheiten und Randgruppen, die sich hier Gehör verschaffen und somit leicht als „Linksradikale“, „Linksextreme Gewalttäter“ und „Chaoten“ kriminalisiert und verunglimpft werden konnten. Es sind Schüler*innen, Student*innen, Arbeiter*innen, Anwält*innen, Ärzt*innen, Eltern – kurz: immer größere Teile der Gesellschaft stehen auf und fordern drastische Veränderungen. Es liegt in unserem System selbst begründet, wie seine Reaktionen darauf aussehen. Die bestehende Ordnung muss aufrechterhalten werden und wenn sich das System, dessen Teil die Polizei ist, mehr und mehr Menschen gegenübersieht, wird die Gewalt zunehmend zum Mittel der Abschreckung und Eindämmung.
Eine Studie aus dem Jahr 2019 zeigt erschreckende Zahlen, die Dunkelziffer dürfte aber noch weitaus dramatischer sein. 3375 Fälle von Polizeigewalt wurden untersucht. Stöße, Schlagstockeinsatz, Schmerzgriffe und Pfefferspray sind die häufigsten Formen der Gewalt, die bei 19 % der Betroffenen zu schweren Verletzungen wie Knochenbrüchen, Kopfverletzungen und inneren Verletzungen führten. Weitgehend noch immer völlig unbeachtet sind die psychischen Folgen für die Betroffenen, die langwierig und schwerwiegend sein können.
Ganz besonders im Fokus stehen dabei die Aktivist*innen der Klimagerechtigkeitsbewegung, die aufgrund ihrer großen Zahl und der vielen Aktionen häufig in Kontakt mit der Polizei kommen. Die brutalen Bilder aus Wien, wo ein Mensch mit dem Kopf unter ein losfahrendes Polizeifahrzeug gelegt wurde, sind da nur ein Beispiel von vielen. Es arbeiten inzwischen ganze Ermittlungsausschüsse mit spezialisierten Anwält*innen quasi dauerhaft im Hintergrund, um Aktivist*innen zu schützen, zu beraten und in Prozessen zur Seite zu stehen.
Dadurch gelingt es langsam, dass immer mehr Betroffene Polizeigewalt zur Anzeige bringen, wenn gleich u.a. die Angst vor weiteren Repressionen viele diesen Schritt noch immer nicht gehen lässt. Zudem sind die Erfolgsaussichten gering, auch das belegt die Studie. Täter sind oft nicht identifizierbar, Ermittlungen in den eigenen Reihen verlaufen im Sand, die Einstellungsquote liegt bei 93 %.
Auch bei Einsätzen abseits von Demonstrationen kommt es immer wieder zu Gewalt und sogar Todesfällen. Bei einem Zwischenfall in einer Wohnung in Berlin fallen im Januar tödliche Schüsse. Dabei handelt es sich nicht um einen Einzelfall. Im gezeigten Beispiel war die betroffene Person psychisch krank. Die Polizei ist nicht vorbereitet auf den Umgang mit solchen Menschen, so dass Situationen schnell und dramatisch eskalieren. Polizeieinsätze in Wohnungen sind aber sicher in jedem Fall mit erhöhtem Gefahrenpotential verbunden: enge und oft sowieso schon emotional aufgeladene Situationen sind nicht der Ort für bewaffnete Polizeieinheiten.
Unvergessen ebenfalls die mutmaßliche Ermordung von Oury Jalloh, der 2005 in Polizeigewahrsam starb. Eine Aufarbeitung und genaue Aufklärung der Umstände lässt bis heute trotz mehrerer Ermittlungsverfahren auf sich warten.
Die Informationen zu Gewaltexzessen von Polizist*innen aus allen Teilen der Welt reißen momentan nicht mehr ab. Dabei spielt es keine Rolle, ob wir uns innerhalb von Europa umschauen oder den Blick in andere Teile der Welt richten. Die Bilder gleichen sich, die Hintergründe tun es ebenfalls. In Chile kommt der Widerstand gegen soziale Ungleichheit, Korruption und für eine Verfassungsreform, sowie eine tiefgreifende Reform des Wirtschaftssystems nicht zum Erliegen. Während es 2011 – 2012 vornehmlich Schüler*innen und Student*innen waren, wird dieser Protest inzwischen von der breiten Bevölkerung getragen. Der Staat reagiert mit brutaler Gewalt, die auch Journalist*innen und Helfer*innen trifft.
In Frankreich brennen seit Monaten Straßenbarrikaden und die Zahl derer, die gegen Macron und seine Reformen aktiv Widerstand leisten, steigt. Auch hier gelingt es trotz massiver Polizeigewalt nicht, die Proteste einzuschränken.
Wir können hier nur einzelne Beispiele aufgreifen, die Liste der Vorfälle scheint endlos. Sich damit auseinanderzusetzen kann einschüchternd sein, sollte aber trotzdem ebenso etwas anderes deutlich machen, was uns doch Mut geben sollte: Polizeigewalt gelingt es nicht mehr, die vielfältigen Stimmen des Widerstands verstummen zu lassen. Im Gegenteil, jedes neue Video, jeder neue Bericht scheint weitere Proteste auszulösen, mehr Menschen auf die Straßen zu holen, die Themen nur umso präsenter zu machen und den Druck auf die Verantwortlichen zu erhöhen.
Was können wir tun, wenn wir direkt oder indirekt von Polizeigewalt betroffen sind?
Es ist wichtig, nicht wegzuschauen und nicht zu schweigen. Dokumentiert die Vorfälle, lasst Betroffene nicht allein, zeigt die Vorfälle an, macht sie öffentlich. Die Antwort, die in all den aktuellen Krisen immer eine ganz wichtige ist, ist Solidarität! Helft Betroffenen während, aber auch nach der Gewalterfahrung, haltet zusammen und bildet eine gemeinsame, laute Stimme. Wir stellen uns alle solidarisch an die Seite derer, die betroffen sind. Lasst uns den Opfern eine Stimme geben, denn Polizeigewalt kann jede*n treffen.