Wenn der Täter uns entlarvt

Wir alle, die wir uns dem linken politischen Spektrum zuordnen, haben klare Haltungen und starke Positionen. Wir haben Selbstverständnisse, Transparente mit eindeutigen Botschaften und wir erklären uns selbstverständlich solidarisch mit all den Kämpfen, die es zu führen und zu unterstützen gilt: gegen das Patriarchat, gegen Gewalt gegenüber Frauen, für Feminismus, Frauenrechte…Wir sind eindeutig auf der „richtigen und guten Seite“.

Diese Selbsteinschätzung hält stand, so lange Personen involviert und betroffen sind, die außerhalb unserer Gruppen sind. Sie hält auch noch stand, wenn das Opfer (ab jetzt „die betroffene Person“/“Betroffene“) in unseren Kreisen zu finden ist, aber der Täter außerhalb steht.

Diese SelbstÜBERschätzung bricht laut krachend in sich zusammen, wenn Täter und Betroffene innerhalb unserer Gruppen zusammenkommen. In diesem Fall werden wir alle enttarnt und es gilt zu zeigen, wie viel unsere Haltungen, Positionen, Selbstverständnisse und bunten Banner wert sind. In diesem Fall tun sich Abgründe auf, von denen ich nicht zu glauben gewagt hätte, dass sie bei „uns“ existieren. Abgründe, in die ich niemals hätte blicken wollen innerhalb „meiner Gruppen“, bei Menschen, die ich als Freund*innen bezeichne und bei denen ich das nun ernsthaft überdenken muss.

Ich musste während der letzten Tage innerhalb linker Gruppen und von Freund*innen zum Teil Dinge hören und lesen, die mich auf eine Weise getroffen haben, die ich nicht in Worte fassen kann: fassungslos, schockiert, entsetzt, verletzt, abgestoßen…all das trifft zu und beschreibt es doch nicht ansatzweise.

Täter sexualisierter Gewalt und Betroffene dieser Tat sind Teil der gleichen Gruppen, Teil eines Freundeskreises. Hier ist sie nun also zusammengebrochen, die Selbsteinschätzung, die heile, reflektierte linke Welt. Sie ist in tausende kleine Teile zersprungen und ich bin mir nicht sicher, ob es möglich ist, alles wieder zu kleben, ob wir es überhaupt versuchen sollten. Die Masken sind scheppernd gefallen.

Es gibt keinen erprobten, kollektiven Umgang mit sexualisierter Gewalt innerhalb linker Strukturen. Diese Feststellung offenbart ein riesiges Problem, an dessen Lösung wir alle ganz dringend arbeiten müssen. Das dieser Umgang fehlt, hat im Ernstfall gravierende Auswirkungen. Linke Gruppen werden gelähmt, brechen auseinander und politische Arbeit kommt zum Erliegen. In Anbetracht all der Probleme, die wir eigentlich zu bekämpfen haben (Rassismus, Rechtsterrorismus, Klimakrise, Lobbyismus, das Erstarken von Nazis und ihren Netzwerken, Kapitalismus, Patriarchat…), können wir es uns aber nicht leisten, dass politische Arbeit zum Erliegen kommt. Allerdings ist dieser Aspekt für mich aktuell nur der untergeordnete. Für mich persönlich ist momentan noch weitaus dramatischer, dass ich Menschen, Freund*innen von Seiten kennenlernen muss, die sie im Rahmen von linker politischer Arbeit (unbewusst?) so vollständig hinter Slogans, Selbstverständnissen und Positionspapieren verstecken und die sie überspielen konnten, dass ich entsetzt bin. Ich hinterfrage mein Verbleiben in bestimmten linkspolitischen Gruppen, die seit Jahren wichtiger Teil meines täglichen Lebens waren, in denen ich mich sicher, wohl und gut aufgehoben gefühlt habe. Ich hinterfrage Freundschaften.

Wurde uns durch eine Tat im eigenen Umfeld die Möglichkeit genommen, den Täter „außerhalb“ zu verorten und dementsprechend klar mit Tat und Täter umzugehen und oft erprobte Automatismen abzurufen, wird auf einmal hinterfragt, relativiert, bedingungslose Solidarität verweigert und stattdessen Begriffsdiskussionen gestartet: Was heißt „bedingungslos“? Was bedeutet „Solidarität“ in diesem Zusammenhang? Worüber reden wir genau, wenn wir von sexualisierter Gewalt reden?…

Das alles würde nicht geschehen, wenn der Täter außerhalb der eigenen linken Strukturen zu suchen wäre. DAS ist falsch, erschreckend, entlarvend und extrem bedenklich. Diese Erkenntnis ist neben der Tat an sich das zweite „Undenkbare“, „Unvorstellbare“ und „Unmögliche“ was über die betroffene Person und all diejenigen von uns hereinbricht, die bedingungslos an ihrer Seite stehen und die versuchen, zu helfen und zu unterstützen, wo es nur geht. Hier finden unzählige, grausame Retraumatisierungen statt, hier finden – sicher in anderem Umfang und auf einem anderen Level – auch Ersttraumatisierungen statt. Der Täter ist der Auslöser, aber die Gruppen und Menschen, die der betroffenen Person und denen, die sie unterstützen, jetzt Schutz, Rückhalt und Hilfe sein sollten, sind es in Teilen nicht. Sie werden durch dieses Verhalten zu wesentlichen Akteur*innen auf der falschen Seite.

Aus Gründen, die in unseren politischen Ansichten begründet liegen, rufen wir nicht die Exekutivorgane des Staates um Hilfe an. Wir wenden uns an interne Strukturen bestehend aus unseren Genoss*innen, Freund*innen, Mitstreiter*innen. Wir setzen auf diese und glauben an sie. Wir haben nicht erwartet, dass wir Solidarität einfordern müssen, wir haben nicht erwartet, dass wir uns rechtfertigen und erklären müssen und wir wurden von einigen extrem enttäuscht.

Diesen Menschen kann ich nur sagen: lest eure eigenen Selbstverständnisse und Prinzipien und überlegt, ob ihr denen gerecht werdet.

Respekt für die Wünsche und Grenzen der Betroffenen!

Klare Positionierung auf Seiten der Betroffenen und bedingungslose Solidarität!

„Was brauchst Du?“ ist die zunächst einzig relevante Frage!

Was können wir tun, um sichere Räume für die Betroffene zu schaffen und ihr in diesen (wenn gewünscht) wieder politische Arbeit zu ermöglichen?

Keine weitere Zusammenarbeit mit und Unterstützung für den Täter!

Ganz explizit aber auch ein riesiges Dankeschön an die Menschen und Gruppen, die sich genauso verhalten haben. Auch davon gab es einige und es ist gut zu wissen, wer ihr seid.